Lebbeyk

Was bedeutet es, zu glauben? Welchem Zweck dient unser Glaube? Was ändert sich durch unseren Glauben, durch unseren Zustand, an etwas zu glauben? Warum glauben wir? Worin äußert sich unser Glauben? Welchen Einfluss hat unser innerer Zustand, ein glaubender Mensch zu sein, auf unseren äußeren Zustand?

Das Nachdenken über diese Fragen ist in unseren Gemeinschaften keine regelmäßige Praxis. Viel häufiger denken wir darüber nach, wie wir unseren Glauben praktizieren. Die Fragen nach vermeintlich richtiger oder falscher Glaubensausübung verhindern immer mehr, dass das Nachdenken über die Bedeutung unseres Glaubens zu einer regelmäßigen Übung wird.

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Eine Moschee, nicht ein Kulturinstitut

Ein Gastbeitrag von Dr. Ali Ghandour

Als die ersten Muslime nach Syrien oder dem Irak kamen und dort die ersten Grundstrukturen eines muslimischen Lebens etablierten, kam keiner auf die Idee, eine Moschee wie sie sie aus Medina kannten, zu bauen. Vorbild für die neu errichteten Moscheen war immer die lokale Architektur. Man braucht nur einen Blick auf eine alte Moschee in Syrien zu werfen, um frappante Ähnlichkeiten mit der römischen und byzantinischen Baukunst festzustellen oder den Turm der Samarra-Moschee im heutigen Irak zu betrachten, um darin Besonderheiten der mesopotamischen Architektur zu entdecken. Viele Moscheen in China kann man von buddhistischen oder taoistischen Tempeln nur wegen arabischer Kalligraphien unterscheiden. Eigentlich war die lokale Architektur und Baukunst immer für die Muslime Grundlage und Maßstab für ihre Moscheen. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche Moscheeformen, die sich von Ort zu Ort und von Epoche zu Epoche unterscheiden. Genauer gesagt, Moscheen wurden immer im Hier und Jetzt gebaut.

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Welches Ziel?

Wenn man von Gewalt und Unrecht betroffen ist, fällt es schwer, geduldig zu sein.
Wenn man von Verachtung und Hass betroffen ist, fällt es schwer, vergebend zu sein.
Wenn man das Gefühl hat, trotz all dieses Leids und des Unrechts ändere sich nichts, fällt es schwer, nicht wütend zu sein, nicht zornig zu sein.

Die Gedenktage, sie häufen sich in unserem Land. Nach behördlichen Statistiken sind in den letzten 30 Jahren 109 Menschen Opfer rechtsextremer tödlicher Gewalt geworden. Nach journalistischen Recherchen ist von einer Mindestzahl von 187 Mordopfern auszugehen. Würden wir unsere Erinnerung an diese Opfer über das Jahr verteilen, müssten wir etwa an jedem zweiten Tag einem Mordopfer gedenken. Jeden zweiten Tag.

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Ein Jahr nach Hanau

Rassismus tötet. Das ist uns nicht erst seit gestern klar. Auch nicht erst nach Hanau. Wir wissen, dass Menschen, die aus rassistischen Motiven hassen, irgendwann auch bereit dazu sind, diesen Hass in mörderischer Weise auszuleben. Das erscheint uns kaum begreifbar. Auch wenn dieser letzte Schritt vom Hassen zum Töten uns unbegreiflich erscheint, ist uns der Hass selbst aber nicht völlig fremd.

In jedem von uns schlummert ein Gefühl, eine Haltung, ein erster Reflex der Ablehnung, der Zurückweisung andere Menschen. Manchmal aus ganz persönlichen Gründen. Wegen schlechter individueller Erfahrungen. Manchmal aber auch aus Gründen, mit denen wir aufgewachsen sind. Mit Vorstellungen darüber, dass andere Menschen vermeintlich nicht so sind wie wir. Sie sind anders. Wir sind mit einer Vorstellung aufgewachsen, dass wir der Maßstab dessen sind, was als normal und gut zu gelten hat. Menschen, die von dieser Vorstellung abweichen, sehen wir häufig nicht als Ausdruck einer gleichberechtigten, einer gleichwertigen Verschiedenheit an. Wir bewerten diese Verschiedenheit. Wir urteilen über die Abweichungen. Dabei werten wir ab. Wir verurteilen.

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Damit wir leben

Der Tod ist für den Menschen sein verstörendster “Lebensabschnitt”. Er ist endgültig und sein Kommen ist sicher. Dennoch überrascht uns jeder Todesfall – je näher uns der oder die Verstorbene stand, umso mehr. Natürlich schmerzt der Verlust, die irdisch-endgültige Trennung von einer geliebten Person. Jeder Todesfall erinnert uns aber auch an unsere eigene Sterblichkeit, unsere Vergänglichkeit, an ein abruptes Ende, das all unsere Planungen und Vorsätze beendet.

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Unsere Leute?

Wer sind wir? Oder genauer gefragt: Wer sind „Wir“?

Für uns Muslime, die in der hiesigen Gesellschaft als Minderheit gelten, liegt in dieser Frage eine Gelegenheit und ein Hindernis zugleich.

Die Gelegenheit, durch die Definition gemeinsamer muslimischer Interessen gesellschaftlich Gehör zu finden. Oder strukturelle Benachteiligungen sichtbar werden zu lassen. Muslime bewegen sich dann als Bürger in dieser Gesellschaft, haben an ihr teil und versuchen sie aus der eigenen muslimischen Perspektive zu verbessern – zum Wohle aller.

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Ist Recycling etwa Haram?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

„Recycling im Islam“ als Überschrift hätte wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit erregt als die Frage nach Haram. Das Spiel um Halal und Haram habe ich nicht gern. Die Kategorie haram ist aber immer noch mächtiger als jede andere. Merkwürdig, dass ich beim Anblick einer Portion Saft „Immunbombe“, in einem recycelbaren Becher, daran denken musste.

Haram markiert Grenzen: Wir fragen zwar, ob etwas halal ist, wollen aber eigentlich wissen, dass etwas nicht haram ist. Wir denken ex negativo. Haram stiftet immer noch Identität, zeigt die Überlegenheit derjenigen, die sie nicht übertreten: Wenn etwas haram ist, ist die Übertretung so gravierend, dass man dies vor anderen Menschen versteckt. Ob es Gott sieht, interessiert leider die wenigsten. Die, die es interessiert, finden Zuflucht in der Reue (tawba). Es gibt also immer einen Ausweg aus dem haram, indem man gerade steckt. Ja, genau: Indem man immer noch steckt! Führt man eine Handlung aus, die haram ist, muss man Reue zeigen, also tawba leisten und sich fest vornehmen, in Zukunft nicht mehr so zu handeln. Selbst jene, die ihren Alltag nicht nach religiösen Vorsätzen strukturieren, achten auf diese Kategorie: Wenn sie muslimisch sozialisiert sind, würden die wenigsten den Haram begehen, Schweinefleisch zu verzehren. Alkoholkonsum; da sind wir im Umgang ein bisschen lockerer, wieso auch immer…

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Wer Vielfalt leugnet, der leugnet die Schöpfung Allahs

Ein Gastbeitrag von Fatih Seyfi

Weltweit werden viele ethnische wie kulturelle Minderheiten dazu gezwungen, sich einem Zwang der Anpassung und der Aufgabe kultureller Eigenheiten zu unterwerfen. Eines der aktuellsten Beispiele sind die muslimischen Uighuren in China. Schätzungen zufolge werden mehr als eine Millionen Uighuren sowie Angehörige anderer muslimischer Minderheiten in der Nordwest-Provinz Xinjiang in sogenannten „Umerziehungslagern“ interniert, misshandelt, zur Zwangsarbeit und zur Aufgabe ihrer religiösen und kulturellen Bräuche gezwungen.

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Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

Wenn ein*e gläubige*r Muslim*a vor einer Entscheidung steht, oder etwas tun oder unterlassen muss, ist die erste Frage, die durch seinen*ihren Kopf geht: Ist das, was ich tue, halal oder haram? Zum Beispiel: Ist Sylvester zu feiern erlaubt oder verboten? Stellen Sie sich vor, dass Sie ein*e Arzt*Ärztin in der Notfallaufnahme sind. Sie haben alles getan, um einen Covid-Patienten zu retten, der nur geringe Überlebenschancen hat. Gleichzeitig wird der*die nächste eingeliefert, der*die sehr wahrscheinlich überleben wird. Ihre Aufnahmekapazitäten sind fast ausgeschöpft. Sie haben vorschriftsmäßig alles getan, entscheiden sich dafür, den*die Patienten*in zu behandeln, der*die wahrscheinlich überleben wird. Wieso fühlt sich der*die muslimische Arzt*Ärztin dazu verpflichtet, noch einmal nachzufragen, ob diese Entscheidung zulässig ist; also in seinem*ihrem Denkschema halal oder haram ist?

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Silvesterparanoia

Auch dieses Jahr wäre es zum Ende des kalendarischen Jahres eine Gelegenheit gewesen, aus muslimischer Sicht auf die zurückliegenden Monate zu Blicken, die vergangenen Ereignisse aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu kommentieren und die kollektiven Hoffnungen für das bevorstehende Jahr für alle Menschen in diesem Land positiv zu formulieren.

Viele Muslime tun das sicher auch. Aber mindestens ebenso viele, allen voran innerhalb unserer organisierten Strukturen der muslimischen Gemeinschaften, sind mit etwas anderem beschäftigt. Dort entfaltet sich eine besondere Form der Kreativität, die auf verschiedenen Ebenen offenbart, wie es um die muslimische Seele vielfach bestellt ist.

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