Ein Jahr nach Hanau

Rassismus tötet. Das ist uns nicht erst seit gestern klar. Auch nicht erst nach Hanau. Wir wissen, dass Menschen, die aus rassistischen Motiven hassen, irgendwann auch bereit dazu sind, diesen Hass in mörderischer Weise auszuleben. Das erscheint uns kaum begreifbar. Auch wenn dieser letzte Schritt vom Hassen zum Töten uns unbegreiflich erscheint, ist uns der Hass selbst aber nicht völlig fremd.

In jedem von uns schlummert ein Gefühl, eine Haltung, ein erster Reflex der Ablehnung, der Zurückweisung andere Menschen. Manchmal aus ganz persönlichen Gründen. Wegen schlechter individueller Erfahrungen. Manchmal aber auch aus Gründen, mit denen wir aufgewachsen sind. Mit Vorstellungen darüber, dass andere Menschen vermeintlich nicht so sind wie wir. Sie sind anders. Wir sind mit einer Vorstellung aufgewachsen, dass wir der Maßstab dessen sind, was als normal und gut zu gelten hat. Menschen, die von dieser Vorstellung abweichen, sehen wir häufig nicht als Ausdruck einer gleichberechtigten, einer gleichwertigen Verschiedenheit an. Wir bewerten diese Verschiedenheit. Wir urteilen über die Abweichungen. Dabei werten wir ab. Wir verurteilen.

Dieser Impuls fällt uns vielfach nicht als Hass auf. Wir erkennen die zerstörerische Dimension und das tödliche Potenzial dieser intensiven Abneigung häufig nicht. Denn wir haben scheinbar berechtigte Gründe für unsere Abneigung.

Der Rassismus, der gesellschaftlich eingeübt und als Vorstellung der Überlegenheit gegenüber anderen, gegenüber dem Anderen verinnerlicht worden ist, fällt uns als solcher nicht auf. Er ist aber so wirksam, so mächtig, dass er in der Lage ist, die Wirklichkeit zu verändern. Oder genauer gesagt: die von uns angenommene Wirklichkeit zu verändern. Der Rassismus verändert unsere Perzeption, unsere Anschauung von der Welt. Er verändert, wie wir andere Menschen sehen. Er ist in der Lage, unsere objektive sinnliche Wahrnehmung so zu verändern, dass wir nicht mehr das sehen, was vor uns ist, sondern nur das zu sehen in der Lage sind, was unsere Vorstellung der eigenen Überlegenheit bestätigt.

Hamza Kurtović ist einer der Menschen, die in Hanau ermordet worden sind. Sein Vater berichtet über die Erlebnisse, die dem Tod seines Sohnes nachfolgten. Acht Tage lang wusste seine Familie nicht, wo sich der Leichnam Hamzas befand. Die Familie beschreibt den Umgang der Behörden mit ihrer Angst, ihrer Ungewissheit und dann ihrer Trauer als kalt, als mitleidlos. Hamzas Vater berichtet weiter: „Als sie die Leiche meines Sohnes ohne meine Einwilligung obduzierten, beschreiben ihn die Beamten mit ‚orientalisches-südländisches Aussehen.‘ Er hatte blonde Haare und blaue Augen, er hieß halt nur Hamza.“

Der Rassismus, den wir nicht als solchen erkennen, den wir in jahrelanger gesellschaftlicher Übung und Überzeugung von Überlegenheit eingesogen haben, bringt Menschen dazu, auch in einem jungen Mann, der dunkelblonde Haare hat, der helle, blaue Augen hat, nicht einen Mitmenschen zu erkennen, sondern nur eine Abweichung, einen Anderen, einen Ausländer. Er bringt Menschen dazu, anzunehmen, dass die Sorge, die Angst und die Trauer einer Familie nicht ihren eigenen Gefühlen entspricht, nur weil der ermordete Sohn, der Bruder nicht Harald heißt, sondern Hamza.

Was braucht diese Familie? Was empfindet sie? Wie sollte man sich ihr gegenüber verhalten? Der Rassismus führt dazu, dass diese Fragen nicht in der Kategorie des gleichwertigen Menschen begriffen und verarbeitet werden, sondern in Kategorien wie „Ausländer“ oder „Muslim“. Und dies mit der Annahme, die Antworten auf diese Fragen seien andere, wenn das Opfer als „Deutscher“ wahrgenommen wird.

Der Rassismus hindert uns daran, mitzufühlen. Er hindert uns daran, im Gegenüber den Menschen zu sehen.

Nach den NSU-Morden vermuteten die Behörden, die Mörder müssten im Umfeld der Ermordeten zu finden sein, weil das Töten eines anderen Menschen in „unserem Kulturkreis“ mit einem großen Tabu belegt sei. Der Rassismus führt dazu, dass wir unsere eigene deutsche Geschichte vergessen.

Diesen Zustand unserer Gesellschaft können wir nicht dadurch überwinden, indem wir nur anklagen und anprangern. Das ist als impulsive Reaktion nachvollziehbar. Aber sie führt uns nicht aus dem Hass, aus der Abneigung heraus. Mit dem Vorwurf von Schuld werden wir unsere Gesellschaft nicht nachhaltig und tiefgreifend verbessern können.

Unser Glaube lehrt uns vielmehr, dass wir Hass und Abneigung nur durch Vergebung und Zuneigung überwinden können. Dass wir Schlechtes nur mit Gutem überwinden können.

Wenn wir beobachten, dass in unserer Gesellschaft Menschen, die anders sind, mit ihrer Not und ihrem Schmerz nicht als Nächste wahrgenommen werden, denen es zu helfen gilt, müssen wir Muslime uns zum Nächsten all jener machen, die Not leiden, die Schmerzen empfinden, die Hilfe benötigen. Dort, wo der Rassismus tiefe Gräben aufreißt, müssen wir diese durch Nähe, durch Zuneigung überwinden.

Die Morde von Hanau, die Erlebnisse der Familie Kurtović zeigen uns, dass die Sätze „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ noch nicht den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft beschreiben. Sie formulieren ein Versprechen, wie unsere Gesellschaft, wie unser Zusammenleben sein sollen. Es ist auch unsere Verantwortung als Muslime, dass dieses Versprechen Wirklichkeit wird.