Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz
Wenn ein*e gläubige*r Muslim*a vor einer Entscheidung steht, oder etwas tun oder unterlassen muss, ist die erste Frage, die durch seinen*ihren Kopf geht: Ist das, was ich tue, halal oder haram? Zum Beispiel: Ist Sylvester zu feiern erlaubt oder verboten? Stellen Sie sich vor, dass Sie ein*e Arzt*Ärztin in der Notfallaufnahme sind. Sie haben alles getan, um einen Covid-Patienten zu retten, der nur geringe Überlebenschancen hat. Gleichzeitig wird der*die nächste eingeliefert, der*die sehr wahrscheinlich überleben wird. Ihre Aufnahmekapazitäten sind fast ausgeschöpft. Sie haben vorschriftsmäßig alles getan, entscheiden sich dafür, den*die Patienten*in zu behandeln, der*die wahrscheinlich überleben wird. Wieso fühlt sich der*die muslimische Arzt*Ärztin dazu verpflichtet, noch einmal nachzufragen, ob diese Entscheidung zulässig ist; also in seinem*ihrem Denkschema halal oder haram ist?
Wir denken zwangsläufig in dieser Halal-Haram-Dichotomie, also in schwarz und weiß, da wir bestimmte historische Entwicklungen in der muslimischen Tradition absolut setzen. Seit Jahrhunderten werden alltägliche Fragen und ihre theologische Deutung in der Disziplin fiqh, also im islamischen Recht, besprochen. Das führt u.a. dazu, dass wir in den Kategorien „erlaubt“ und „verboten“ denken. Das war aber nicht immer so. Der Koran und der Gesandte Gottes haben im Gegensatz zur späteren muslimischen Gelehrsamkeit der menschlichen Erfahrung (der Koran nennt sie maʿrūf, zu Dt. das Bekannte und Gute) einen Raum geboten. Muslime durften von Anbeginn alltägliche Probleme selbst mit Rückbezug auf ihre eigene Erfahrung lösen. Sie haben zwar Fehler gemacht, aber sowohl der Koran als auch der Gesandte Gottes haben dieses Risiko zugelassen. Sie haben manchmal korrigierend eingegriffen aber die menschliche Erfahrung nicht ausgeschlossen. Das hat dazu geführt, dass die muslimische Tradition sich plural entwickelt hat, dynamisch und anpassungsfähig war, aber deshalb auch anfällig für Fehler, da nur schwer kontrollierbar.
Nach dem Ableben des Propheten hat sich diese Haltung daher gewandelt. Es hat sich die Meinung gefestigt, dass es eine Instanz geben muss, die über die Korrektheit von Handlungen entscheidet. Man setzte die Rede Gottes, die in einem bestimmten Kontext entstand, als absolut. Die Tradition der Muslime, also die Sunna, wurde auf die Sunna des Propheten reduziert. Sie wurde auch absolut gesetzt. Endlich sollten alle Handlungen, die die Menschen vollziehen, entweder aus diesen beiden Quellen heraus bewertet oder durch sie direkt oder indirekt geregelt werden. Darin begründet sich das Denken in strikt-rechtlichem Sinne. Der Vorteil davon ist, dass sich muslimische Gelehrte gegen willkürliche Herrscher und gegen die politische Instabilität wehren konnten: Sie sagen nur das, was Gott vom Menschen will. Also hat jeder Herrscher, egal welche Dynastie gerade herrschte, sich daran zu halten. Ferner gewährt dieses System Sicherheit: Muslime wissen, dass Richter und Rechtsgelehrte nicht willkürlich argumentieren, sondern sich auf Koran und Sunna berufen. Hinzukommt eine Haltung der Gelehrten, die sich durchsetzen konnte. Gründe dafür sind theologisch und auch wahrscheinlich politisch. Sie besagt: Das Gute und Böse gibt es nicht; nur das, was Gott gebietet, ist gut, und was er verbietet, ist böse. Damit ist der nächste Grundstein für das Halal-Haram-Denken gelegt worden. Denn wie kann ich mich frei für die gute Handlung entscheiden, wenn es sie nicht gibt, wenn nur die Aufforderung dazu im Koran zeigen kann, dass sie gut ist? Diese Haltung soll auch den*die Nichtexperten*in entlasten; nicht jeder kann über die Handlungen theologisch reflektieren. Da die Auslegung der Texte auch immer variieren konnte, sind Rechtsschulen entstanden. Der*die Nichtexperte*in gehört einer dieser an und ist nur verpflichtet (mukallaf), eine Handlung, die dort bewertet wird, entsprechend zu befolgen. Eine wirkliche Verantwortung, sich selbst dafür zu entscheiden, ist in diesem System nicht gegeben.
Da wir diese historischen Entwicklungen absolut setzen, also so tun, als ob der Koran und der Prophet von Anbeginn dieses Denken gefördert hätten, gehen wir auch heute von dieser Denkstruktur aus. Wir tun so, als gäbe es islamische und nichtislamische Lösungen, fragen nur nach ihnen, indem wir Gelehrte konsultieren. Mit der Moderne fragen wir auch noch nach „islamisch“ und „nicht-islamisch“. Was das genau sein soll, ist unklar. Sie werden sich jetzt denken: Was im Koran und in der Sunna steht, ist islamisch, alles andere nicht. Was steht aber im Koran? Nun, das ist immer schon eine Auslegungssache gewesen, ist sie immer noch. Wie können wir uns sonst die Existenz der Rechtsschulen erklären?! Selbst sich über etwas Gedanken zu machen, basierend auf einer Expertise eine Entscheidung zu treffen, also Verantwortung zu übernehmen, ist diesem Denksystem fern. Ein bekannter Hadith fasst eigentlich die vom Propheten und dem Koran erwünschte Haltung zusammen: Wenn etwas passiert, oder wenn man sich entscheiden muss, eine Handlung zu vollziehen oder zu unterlassen, so soll man sein eigenes Herz befragen. Bebt es, dann ist die Entscheidung falsch. Ist es ruhig, hat man sich richtig entschieden, auch wenn andere davon abraten sollten. Der Koran ist mit seinem Aufruf dazu, das Bekannte und Gute zu tun, klar; er selbst spricht nicht vom Islamischen, auch nicht der Prophet. Tut man also das Beste, was man leisten kann, befindet man sich auf einem guten Weg. Jede Wissensquelle dient zur Reflexion einer vertretbaren Handlung, die niemandem schadet. Ob die Wissensquelle oder die Lösung eine islamische oder sonst wie ist, ist irrelevant. D.h. aber nicht, dass man immer richtig handelt; man kann sich irren. Ist dies aber nicht das Schöne an der Religion: Die Spannung zwischen den möglichen Optionen ständig abzuwägen, in der Hoffnung darauf, das Beste zu tun, oder danach zu streben? Natürlich mit der Hilfe und Rechtleitung Gottes.
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