Ist Recycling etwa Haram?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

„Recycling im Islam“ als Überschrift hätte wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit erregt als die Frage nach Haram. Das Spiel um Halal und Haram habe ich nicht gern. Die Kategorie haram ist aber immer noch mächtiger als jede andere. Merkwürdig, dass ich beim Anblick einer Portion Saft „Immunbombe“, in einem recycelbaren Becher, daran denken musste.

Haram markiert Grenzen: Wir fragen zwar, ob etwas halal ist, wollen aber eigentlich wissen, dass etwas nicht haram ist. Wir denken ex negativo. Haram stiftet immer noch Identität, zeigt die Überlegenheit derjenigen, die sie nicht übertreten: Wenn etwas haram ist, ist die Übertretung so gravierend, dass man dies vor anderen Menschen versteckt. Ob es Gott sieht, interessiert leider die wenigsten. Die, die es interessiert, finden Zuflucht in der Reue (tawba). Es gibt also immer einen Ausweg aus dem haram, indem man gerade steckt. Ja, genau: Indem man immer noch steckt! Führt man eine Handlung aus, die haram ist, muss man Reue zeigen, also tawba leisten und sich fest vornehmen, in Zukunft nicht mehr so zu handeln. Selbst jene, die ihren Alltag nicht nach religiösen Vorsätzen strukturieren, achten auf diese Kategorie: Wenn sie muslimisch sozialisiert sind, würden die wenigsten den Haram begehen, Schweinefleisch zu verzehren. Alkoholkonsum; da sind wir im Umgang ein bisschen lockerer, wieso auch immer…

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Wer Vielfalt leugnet, der leugnet die Schöpfung Allahs

Ein Gastbeitrag von Fatih Seyfi

Weltweit werden viele ethnische wie kulturelle Minderheiten dazu gezwungen, sich einem Zwang der Anpassung und der Aufgabe kultureller Eigenheiten zu unterwerfen. Eines der aktuellsten Beispiele sind die muslimischen Uighuren in China. Schätzungen zufolge werden mehr als eine Millionen Uighuren sowie Angehörige anderer muslimischer Minderheiten in der Nordwest-Provinz Xinjiang in sogenannten „Umerziehungslagern“ interniert, misshandelt, zur Zwangsarbeit und zur Aufgabe ihrer religiösen und kulturellen Bräuche gezwungen.

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Der Rassist in mir

Rassisten sind nicht nur die Anderen. Ein Eingeständnis, das uns schwer fällt, denn dafür braucht es eines kritischen Blickes in das eigene Selbst, in die eigene Gruppe, Gemeinschaft, Nation. Die allgemein akzeptierte Definition von Rassismus nimmt den Blick auf den Anderen in ihr Zentrum. Rassismus ist demnach eine Ideologie, die Menschen aufgrund ihres Äußeren, ihres Namen, ihrer Kultur, Herkunft oder Religion abwertet.

Antirassismus, die Auseinandersetzung mit Rassismus, baut folgerichtig  darauf auf, wie mit dem Anderen umgegangen wird, welche Haltung dem Anderen gegenüber gezeigt wird. Der rassistischen Abwertung des Anderen geht oftmals eine bewusste oder unbewusste Aufwertung des Eigenen voraus: der eigenen Person, der eigenen Gruppe, der eigenen Gemeinschaft oder Nation. Dafür braucht es jedoch keiner hochtrabenden Manifeste. An unseren Handlungen oder unserer Untätigkeit können wir bereits sehen, ob wir nicht auch selbst Gefahr laufen, in rassistische Denkstrukturen zu verfallen.

Gerade in Deutschland sind es oft Zugewanderte, aber auch Muslime als religiöse Minderheit, die immer wieder Opfer von Rassismen werden. Doch jede Minderheit hat auch Kontexte, in der sie selbst die Mehrheit stellt. Würde das Dasein als Minderheit eine immunisierende Wirkung dagegen haben, selbst zum Rassisten zu werden, würden schwarze Muslime, muslimische Sinti und Roma, aber auch zum Islam konvertierte Muslime in unseren Gemeinden keine Probleme haben. Das Gegenteil ist der Fall.

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Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

Wenn ein*e gläubige*r Muslim*a vor einer Entscheidung steht, oder etwas tun oder unterlassen muss, ist die erste Frage, die durch seinen*ihren Kopf geht: Ist das, was ich tue, halal oder haram? Zum Beispiel: Ist Sylvester zu feiern erlaubt oder verboten? Stellen Sie sich vor, dass Sie ein*e Arzt*Ärztin in der Notfallaufnahme sind. Sie haben alles getan, um einen Covid-Patienten zu retten, der nur geringe Überlebenschancen hat. Gleichzeitig wird der*die nächste eingeliefert, der*die sehr wahrscheinlich überleben wird. Ihre Aufnahmekapazitäten sind fast ausgeschöpft. Sie haben vorschriftsmäßig alles getan, entscheiden sich dafür, den*die Patienten*in zu behandeln, der*die wahrscheinlich überleben wird. Wieso fühlt sich der*die muslimische Arzt*Ärztin dazu verpflichtet, noch einmal nachzufragen, ob diese Entscheidung zulässig ist; also in seinem*ihrem Denkschema halal oder haram ist?

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Silvesterparanoia

Auch dieses Jahr wäre es zum Ende des kalendarischen Jahres eine Gelegenheit gewesen, aus muslimischer Sicht auf die zurückliegenden Monate zu Blicken, die vergangenen Ereignisse aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu kommentieren und die kollektiven Hoffnungen für das bevorstehende Jahr für alle Menschen in diesem Land positiv zu formulieren.

Viele Muslime tun das sicher auch. Aber mindestens ebenso viele, allen voran innerhalb unserer organisierten Strukturen der muslimischen Gemeinschaften, sind mit etwas anderem beschäftigt. Dort entfaltet sich eine besondere Form der Kreativität, die auf verschiedenen Ebenen offenbart, wie es um die muslimische Seele vielfach bestellt ist.

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Alle Jahre wieder …

Weihnachtszeit. Jedes Jahr wiederholen sich die Rituale anlässlich dieses Festes. Unter Muslimen schwelen innere Spannungen zwischen emphatischer Freude, der Suche nach den islamischen Quellen, welche die Geburt Jesu schildern, aber auch einer verstörenden Ablehnung, christlichen Mitbürgern auch nur frohe Weihnachten zu wünschen.

Letzteres ist häufig der Ausdruck einer eigenen Unsicherheit im Glauben. Wenn sich Frömmigkeit ihrer Festigkeit dadurch vergewissern muss, andere Glaubensüberzeugungen fundamental abzulehnen und ihre Präsenz nicht als Wert einer vielfältigen Gesellschaft zu schätzen, führt das zu einer Einfältigkeit im eigenen Glauben und erstickt unsere Möglichkeiten, einander achtsam zu begegnen – und Freude an der Freude des anderen nachzuempfinden.

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Die Religion eurer Väter

Ambivalenz gehört zu jeder Religion. Zerrissenheit gehört dazu, wenn das Göttliche auf das Endliche, dass Transzendente auf unser irdisches Leben treffen. Ambivalent ist zumeist auch das Verhältnis der Entstehung zur darauffolgenden Tradierung einer Religion. Während die neue Botschaft Vorhandenes umstößt, verwirft, die Perspektive revolutioniert, fällt den nachfolgenden Generationen die Aufgabe zu, diese Botschaft aufrechtzuerhalten und weiterzugeben.

Diese Ambivalenz, diese Zerrissenheit zwischen Aufbruch und Tradition ist die Herausforderung, die sich jeder Generation auf ein Neues stellt. Jeder Generation fällt einerseits die Aufgabe zu, die Botschaft in all ihrer Authentizität zu empfangen, sie unverfälscht in das eigene Leben aufzunehmen, sie an die nächste Generation weiterzugeben. Andererseits erhält sie jedoch jedes Mal, als wäre es wieder das erste Mal, die Aufforderung zu hinterfragen und damit eigene Verantwortung zu übernehmen.

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Chanukka sameach!

„Baruch Atah Adonaj, Elohejnu Melech ha’Olam, schehechejanu, vekijemanu vehigianu laSman haseh.“

„Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen.“

Dies ist einer der drei Segenssprüche, mit dem das erste Licht des Chanukka-Leuchters entzündet wird. Unsere jüdischen Geschwister begehen in den kommenden Tagen das jährliche Chanukka-Fest im Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem.

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Maria

Jedes Jahr um die Wintersonnenwende, wenn die kürzesten Tage des Jahres uns mit Kälte, Nebel und Dunkelheit umhüllen, zünden Christen Kerzen an und Gedenken der Geburt Jesu. Und jedes Jahr um die Weihnachtszeit fragen sich Christen und Muslime im interreligiösen Miteinander, was denn die Stellung Jesu im Islam sei. Die Antwort ist: Jesus ist ein Prophet Allahs, so wie Muhammad (sas) auch. Daraufhin kommt die Frage: Was sagt denn der Koran zu Jesus? Zu seiner Kreuzigung? Zu seiner Auferstehung? Zu seinen Wundern? Das sind berechtigte Fragen. Allah spricht im Koran aber nicht nur zu den Fragen, die wir uns heute stellen. Er hat anderes und mehr zu sagen.

Wenn wir den Koran – ohne vorformulierte Fragen – lesen, werden wir Folgendes bemerken: Maria (Maryam) erhält im Koran viel mehr Aufmerksamkeit als Jesus. Sie ist die Protagonistin der koranischen Erzählung, nicht Jesus.

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Mit Allah in Resonanz

Ein Gastbeitrag von Sumayya Ahmed

Das islamische Glaubensbekenntnis beginnt mit »la ilaha illa Allah«. Das »la« (nein) ist eine Verneinung und Lossagung von allem Unwahrem, um dem Wahrhaftigen, Allah (swt), zu begegnen. »La ilaha illa Allah« bedeutet, nichts und niemand ist so wie Allah (swt). Der Schöpfer. Der Eine und Einzige. Nichts und niemand ist beständig, ewig und allmächtig. Außer Allah (swt). Keine Sorge, kein Kummer und keine Angst sind größer als Allah.

Das Glaubensbekenntnis ist kein Lippenbekenntnis, sondern ein performativer Akt des Herzens. So heißt es bei einem Hadith überliefert von Imam Muslim: »Allah schaut nicht auf eure Gestalten und eure Güter, sondern auf eure Herzen.«

Was bedeutet es Allah ins Zentrum seiner Existenz zu setzen und was macht das mit dem Alltäglichen bzw. Alltag des Menschen, gläubig zu sein?

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