Zu fragen bedeutet, Hoffnung zu haben

In der Sure Bakara wird die Schöpfung Adams in einem Dialog zwischen Gott und den Engeln aufgegriffen:

“Damals, als dein Herr zu den Engeln sprach: “Siehe, einen Sachwalter will ich einsetzen auf der Erde!” Da sprachen sie: “Willst du jemanden auf ihr einsetzen, der Unheil auf ihr anrichtet und Blut vergießt – wo wir dir Lobpreis singen und dich heiligen?” Er sprach: “Siehe, ich weiß, was ihr nicht wisst.”” (2:30)

In weiteren Versen wird die Geschichte der Schöpfung Adams (as) weitererzählt, sein Straucheln, aber auch die Reue und Vergebung, die ihm zuteil wurde. Wir wollen aber bei diesem Vers bleiben. In Erläuterungen wird gerne der Begriff Sachwalter näher betrachtet –  die Frage, welche Rolle dem Mensch daraus zukommt. Oder die Zuschreibung der Engel für den Menschen als Unheilstifter und Blutvergießer wird aufgegriffen. Ein Aspekt dieses Verses fällt uns jedoch selten auf: Die fragenden, ja sogar hinterfragenden Engel.

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Mit den eigenen Widersprüchlichkeiten leben

Wenn heutzutage Muslime zusammenkommen und sich über ihre gegenwärtige Situation in der Welt unterhalten, bleibt eines in der Regel nicht ausgespart: das Klagen über die mangelnde Einheit der Umma. Fast schon gebetsmühlenartig wird immer wieder beanstandet, wie unfähig doch die eigenen Glaubensgeschwister seien, selbst in wesentlichen Fragen einen gemeinsamen Nenner zu finden oder anderen gegenüber geschlossen aufzutreten.

Ob eine Gemeinschaft, in der jeder einhellig dieselbe Meinung vertritt, überhaupt möglich oder gar wünschenswert ist, sei einmal dahingestellt. Bezeichnend ist aber, dass dieses Streben nach Einheit im gemeinschaftlichen Sinne häufig seine Entsprechung auch im Bewusstsein vieler einzelner Muslime findet – nämlich in Gestalt eines unbeirrbaren Strebens nach Eindeutigkeit im Glauben.

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Frevler sind immer die anderen

Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Dieser Sinnspruch ist in vielen Kulturen, in vielen unterschiedlichen Sprachen bekannt. Wir Muslime sind davon überzeugt, dass der Vorsatz, die Absicht, die unserem Handeln zu Grunde liegt, das Entscheidende ist. Wir nehmen häufig an, das Resultat unseres Handelns oder unserer Untätigkeit sei nicht so bedeutsam, wie die Absicht, die unserem Tun oder Unterlassen zu Grunde liegt. In diesem Denken liegt zugleich große Einsicht und tiefer Irrtum.

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Moses lieben und Juden hassen?

Als muslimische Gemeinschaft sprechen wir gern über unsere religiösen Tugenden, über den Islam als Rechtleitung für unser Leben. Selten sprechen wir aber über die Verirrungen, denen wir erliegen. Solche Verirrungen sind menschlich. Sie sind Ausdruck unserer Unvollkommenheit.

Aber wir dürfen sie nicht hinnehmen, wir dürfen sie nicht leugnen oder verharmlosen. Denn dann laufen wir Gefahr, dass Verirrungen nicht mehr als solche erkannt werden, ja sogar als ihr Gegenteil, nämlich als authentische muslimische Haltung missverstanden und über Generationen hinweg aufrechterhalten werden.

Zu den gravierendsten Verirrungen im Verständnis unseres Glaubens gehören zwei Phänomene, die wir als „Antisemitismus“ und „antichristliche Ressentiments“ beschreiben könnten. Aber eine solche Beschreibung wäre in sich bereits eine sprachliche Verharmlosung und damit ebenfalls eine Facette der Verirrung. Wir müssen ehrlich mit uns sein. Und wir müssen unsere Unvollkommenheiten schonungslos benennen. Nur so können wir ihnen ins Gesicht blicken und uns selbst zu Veränderungen bewegen.

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Ende des Ramadan

Wieder neigt sich der jährliche Fastenmonat seinem Ende zu. Und wieder lässt er uns erleben, wie die Herausforderungen, die er mit sich bringt, uns fast zur Gewohnheit werden. Wie scheinbar Unmögliches sich in ein alltägliches Ritual verwandelt und uns vor Augen führt, wie trügerisch unsere Gedanken und Vorstellungen über uns selbst sein können. Kaum sind wir in der Lage, hinter diesen Vorhang unserer Selbstwahrnehmung zu blicken, endet der Ramadan in Tagen der Freude, der familiären Verbundenheit und in vielfachen freundschaftlichen Begegnungen. Und wir fallen zurück in unser eingeübtes Verhalten und der Ramadan verblasst wieder für 11 Monate zu einer fernen Erinnerung der Überwindung von Hunger und Durst.

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Ramadan: Erleichterungen ohne schlechtes Gewissen annehmen

Es ist 2021 und es ist bereits der zweite Ramadan unter Pandemiebedingungen. Während viele Gläubige in dieser Zeit tagsüber auf Essen und Trinken verzichten, sich von schlechten Dingen fernhalten und sich verstärkt dem eigenen Kontakt zu Allah widmen, kommen die Pandemieeinschränkungen im Alltag erschwerend dazu, die dazu führen, dass wir nicht wie gewohnt in größerem Kreis zum Fastenbrechen und Gebet zusammenkommen können.
Für viele von uns ist das mittlerweile so etwas wie Routine, schließlich ist die Gesundheit ein hohes Gut, auch im Glauben.

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Eine Gemeinschaft der Mitte

Ein Gastbeitrag von Dr. Patrick Isa Brooks

„Wir haben euch zu einer ummah wasaṭ, einer Gemeinschaft der Mitte, gemacht“ (2:143), heißt es im Koran. Das Wort richtet sich zunächst zwar an die Urgemeinde um den Propheten ﷺ in Medina, doch es ist auch für das Selbstverständnis von Musliminnen und Muslimen weltweit prägend geworden. Diese Bezeichnung auf uns zu beziehen ist aber nur möglich, wenn wir dabei anerkennen, dass sie keinen Ist-Zustand beschreibt, sondern stets ein Auftrag an uns bleibt: Es ist unsere Bestimmung, eine Gemeinschaft der Mitte zu werden!

Was aber bedeutet es konkret, eine ummah wasaṭ zu sein, sprich welche Aufgabe können wir daraus für uns ableiten? Der Koran bietet zur charakterlichen Haltung der wasaṭiyya, also der Ausgewogenheit oder „Mittigkeit“, mehrere Verständniszugänge an. Einige von diesen sind uns wohlvertraut, andere dagegen oft weniger geläufig. In jedem Fall aber lohnt es sich, sie hin und wieder ins Bewusstsein zu holen.

Die bekannteste Deutung zu wasaṭiyya dürfte das Maßhalten bzw. das Streben nach der „goldenen Mitte“ zwischen zwei Extremen, wie etwa zwischen Geiz und Verschwendung (17:29), sein. Im selben Zusammenhang wird zudem argumentiert, dass der Islam ein gesundes Gleichgewicht an religiösen Regeln und persönlicher Freiheit gewährleiste oder dass er die Mitte zwischen Askese und Genussstreben suche.
Mit Blick auf das gesellschaftliche Miteinander sollte das Ideal der wasaṭiyya aber auch stets als kategorisches Nein zu jeglicher Polarisierung sowie als Offenheit für den Kompromis gedacht werden. Ein Rückzug in ideologische „Schützengräben“ ist mit der Mitte nicht vereinbar. Sie sucht den Ausgleich und ist gegen jedwede Form eines „Wir gegen die Anderen“ zu verteidigen.

Hierzu passt auch, dass der Koran die mittlere Haltung mit Besonnenheit gleichsetzt (68:28): Sie ruft zur Vernunft, vermittelt und ermahnt zum Tun des Rechten. Außerdem lernen wir aus der Sunna, dass wasaṭ im koranischen Gebrauch ein anderes Wort für ʿadl, also „Gerechtigkeit“ oder „Geradheit“ sein kann (Buḫārī § 3339). Eine ummah wasaṭ wäre nach dieser Auslegung also eine Gemeinschaft, die in Streitfällen unparteiisch ist, die Gerechtigkeit liebt und Frieden stiftet (49:9-10). Sie steht in der Mitte, weil sie sich zu keiner der beiden Seiten neigt. Auf diese Weise kann sie Schiedsrichterin für die gute Sache werden.
An das Stichwort „Geradheit“ lässt sich wiederum ein weiteres Verständnis von wasaṭiyya anschließen, welches erneut aus dem Koran selbst ableitbar ist: Das Konzept der Mitte wird dort nämlich auch mit Gottes geradem Pfad, dem ṣirāṭ mustaqīm, in Verbindung gebracht (2:142). Ihn zu beschreiten und dabei weder nach rechts noch nach links abzuweichen, wäre demnach ein mittlerer Weg.

Doch was kennzeichnet diesen ṣirāṭ mustaqīm, welchen wir in unseren täglichen Gebeten erwähnen und auf den wir von Gott geleitet werden möchten? Auf den Glauben bezogen, ist der ṣirāṭ mustaqīm als direkter Pfad zu Gott – und damit als Heilsweg – verstehbar (4:175). Auf die Ethik bezogen, ist er dagegen etwas, das der Koran mit den Zehn Geboten in Verbindung bringt: Der ṣirāṭ mustaqīm stellt hierbei einen Weg dar, der über die gemeinsame Achtung elementarer Prinzipien zu gesellschaftlichem Zusammenhalt führen und Gräben der Feindschaft nachhaltig überwinden will (6:151-153). In diesem Sinne ist er ebenfalls ein Heilsweg, und zwar einer, der auf das Wohlergehen der Menschen auch im Hier und Jetzt abzielt!

Sich dies bewusst zu machen, ist wichtig, denn der Prophet ﷺ und seine Gemeinde schufen in Medina keine gesellschaftliche Nische von rechtgläubigen Menschen, die abgewandt von der Welt in Ruhe ihrer Gebete und Kulthandlungen nachgingen. Vielmehr entwarfen sie das Ideal einer gerechten, aufrichtigen und gütigen Solidargemeinschaft, welche der Willkür und Rechtlosigkeit der Stammesgesellschaft ein Ende setzen würde. Alle Menschen, die dieses Ideal teilten, sollten eingeladen werden, an dieser Gesellschaft mitzubauen und auf diesem Wege eine Wertegemeinschaft zu bilden, die über religiöse Grenzen hinwegreichen würde.

Natürlich sollte in Medina auch eine Glaubensgemeinschaft entstehen, jedoch keine exklusive, die sich selbstgerecht als ummah wasaṭ betrachten und alle übrigen Gruppen der Gesellschaft sich selbst überlassen würde, nein: Eine „Gemeinschaft der Mitte“ zu sein, war von Anfang an mit der besonderen Verantwortung verbunden, ein gutes Beispiel für andere abzugeben und so aktiv für das zu werben, was als maʿrūf – d.h. „allgemein anerkannt“ und „rechtmäßig“ – galt: Wer in der Mitte steht, dessen Tun bleibt bekanntlich nicht unbemerkt.

Zu dieser Verantwortung zählte außerdem der engagierte Einsatz für die Schwachen sowie das couragierte Aufbegehren gegen Unrecht und soziale Missstände. Eine ummah wasaṭ wäre demnach weder weltvergessen noch selbstgenügsam, sondern stets mitten im gesellschaftlichen Geschehen; eine Gemeinschaft, die der Menschen Nöte und Ängste ernstnimmt, sich einmischt und beherzt zupackt; eine Gemeinschaft, die unter Frömmigkeit sowohl Gottes- als auch Nächstenliebe begreift.

Als Musliminnen und Muslime im Deutschland von heute gehören wir natürlich nicht der Urgemeinde um den Propheten ﷺ an und können daher auch nicht wissen, ob wir den Ehrentitel „Gemeinschaft der Mitte“ überhaupt noch verdienen. Wir können uns aber immer wieder der vielfältigen Deutungsmöglichkeiten dieses Begriffs besinnen und täglich darum bemüht sein, eine solche Gemeinschaft zu werden. Lasst uns die vielen Denkanstöße, die in ummah wasaṭ stecken, weiterführen und stets aufs Neue in gesellschaftliches Handeln übersetzen!

Freitagsworte verbinden uns

Ein Gastbeitrag von Superintendent Michael Raddatz

Von Herzen danke ich der Alhambra Gesellschaft für die Gelegenheit, ein Freitagswort zu schreiben. Die Freitagsworte sind für mich jede Woche der Auftakt in die geistliche Reise vom Freitag, über den Sabbat bis zum Sonntag. Sie verbinden mich mit Ihnen, religiös Suchenden und leidenschaftlichen Theologinnen und Theologen, eine gute Mischung, die ich nicht mehr missen möchte. So danke ich allen Autorinnen und Autoren für diese alltagsdurchbrechende Power und allen Kommentaren von Lesenden.

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Vergebung

Morgen begehen wir Muslime die Nacht der Vergebung. In dieser Nacht beten wir darum, von unseren Sünden befreit zu werden. Wir beten um Läuterung.
Wir vertrauen auf die am häufigsten zitierten Attribute unseres Schöpfers, des Allbarmherzigen, des Allgnädigen.

Wir hoffen darauf, dass er uns selbst ein ganzes Leben voller Sünden vergeben mag, wegen einer guten Tat, die wir verrichten. Wir beten um Läuterung und Vergebung, damit wir trotz eines ganzen Lebens voller Tugenden seine Nähe nicht verspielen, wegen einer Sünde, die wir begangen haben.

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Mut zum Frieden

Religion ist Verantwortung. Religion macht verantwortlich. Der Islam in seiner religionspraktischen Ausprägung weist ein beständiges Gleichgewicht von Individualität und Kollektivität aus. Religiöse Praxis hat stets eine höchstpersönliche Dimension und gleichzeitig eine gemeinschaftliche Bedeutung.

Wir verrichten das Ritualgebet, um uns fünfmal am Tag in Demut und Ergebenheit vor unserem Schöpfer zu üben. Gleichzeitig vereint uns das Ritualgebet, wenn es in einer Moschee verrichtet wird, mit anderen Menschen zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis.

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