Ein Gastbeitrag von Superintendent Michael Raddatz
Von Herzen danke ich der Alhambra Gesellschaft für die Gelegenheit, ein Freitagswort zu schreiben. Die Freitagsworte sind für mich jede Woche der Auftakt in die geistliche Reise vom Freitag, über den Sabbat bis zum Sonntag. Sie verbinden mich mit Ihnen, religiös Suchenden und leidenschaftlichen Theologinnen und Theologen, eine gute Mischung, die ich nicht mehr missen möchte. So danke ich allen Autorinnen und Autoren für diese alltagsdurchbrechende Power und allen Kommentaren von Lesenden.
Dieses Freitagswort ist ein Karfreitagswort. Der Tag, an dem Trauer und alle frommen Gedanken in Moll einen weiten Raum haben. Ich brauche das. Es erdet mich. Die große Versuchung, alles mit einer frommen rosa Sahnesoße zu übergießen, ist aus diesem Tag verbannt. Das Leid steht unverblümt vor Augen. Nicht nur das in meiner Nähe, sondern auch das in der Ferne. Ein Leid, das meist namenlos bleibt, bekommt an diesem Tag wenigstens ein menschliches Gesicht. So hat es sich Gott wohl vorgestellt, als er einen einzelnen, der unschuldig stirbt, in sein Herz hineinzieht, geschützt vor dem Furor der Masse, die ruft: Tötet ihn!
Heute beschäftigt mich sehr, dass viele Menschen im vergangenen Jahr einsam sterben mussten, da niemand sie besuchen durfte, nicht einmal die engsten Angehörigen. Das ist unerträglich. Die biblischen Autoren haben diese unerträgliche Vorstellung abgemildert und einzelne erwähnt: Maria von Magdala, Maria, Maria, Salome und die Mutter der Zebedäussöhne und wahrscheinlich Johannes als einzigen Jünger. Im scharfen Kontrast dazu steht das letzte Wort Jesu, ein Psalmwort: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Also, ist er doch einsam gestorben?
Seit drei Jahren haben wir in unseren Karfreitagsandachten in Berlin-Schöneberg immer ein Schicksal eines Menschen aus der Shoa erzählt. Dieses Schicksal ist mit einer Melodie verbunden, die diese Person auf ihrem Leidensweg im Ghetto oder auf den Transporten komponiert hat und als letztes Lebenszeichen hinterlassen hat. Ich bin der Alhambra Gesellschaft dankbar, dass sie diese Lebensmelodien mit bekannt macht. Wir erzählen mit ihnen vom Leben angesichts des rassistischen Furors, zu dem viele Menschen in der NS-Zeit fähig waren. In diesem Jahr nehmen wir ein Wiegenlied in unsere Mitte. Das Lied vom einsamen Mädchen Sarah. Ihre Mutter, Rahel, konnte ihre Tochter nur retten, indem sie sich von ihr trennte. Sie gab Sarah in die Obhut einer nichtjüdischen Familie in ein Dorf bei Wilna. Diese zog sie wie ihr eigenes Kind auf. Sarah hat ein doppeltes Leid zu tragen. Die Trennung von ihrer Mutter und den Tod des Vaters. Er wurde bereits 1941 von Deutschen ermordet. Das Lied vom einsamen Kind ist wie ein Traum. Sarah sucht nächtens ihre Mutter. Auch der Vater kehrt in ihrem Traum zurück. Und dann hört das Mädchen seine Mutter ein Wiegenlied singen. Dieses Lied ist eine Aufforderung, kommenden Generationen von diesem Trennungsschmerz und der Einsamkeit zu erzählen. Niemals darf das Leid aus dem Ghetto in Wilna vergessen werden. Rahel, die Mutter, hat das Ghetto überlebt. Nach Jahren findet sie ihre Tochter Sarah, die sich allerdings nicht mehr an ihre Mutter erinnern kann. Sie wandern gemeinsam in die Vereinigten Staaten aus. Der Dichter Shmerke Kaczerginski hörte von diesem Schmerz der Mutter und der Tochter und schuf dieses Lied kurz nach dem Krieg in einem Lager für Überlebende. 50 Jahre später hört Sarah eine Aufnahme des Liedes, ihre eigene Geschichte, als sie das Holocaust Memorial Museum in den USA besucht. Sie spürt ihre Narben. Und sie weiß, dass das Leid nicht vergessen ist.
Ich bin überzeugt davon, dass auch Bibel und Koran die Geschichten von Narben bewahren. Die von Wunden herrühren, die wir Menschen einander zugefügt haben. Diese Narben müssen gezeigt werden. Sie müssen unser Leben ändern, weil Gott uns als Menschen ansieht.
Von Herzen dank für diese Verbindung in unserer gemeinsamen Lektüre und unserem Austausch. Ich wünsche einen gesegneten Freitag! Selbst wenn wir in der Pandemie nicht zusammen kommen können, so sind wir doch verbunden in unseren Gebeten und unseren Fragen. Und natürlich in den Tagen in Moll. Vielleicht schlagen wir ein gemeinsames Freitags-Karfreitags-Kapitel auf?