Moses lieben und Juden hassen?

Als muslimische Gemeinschaft sprechen wir gern über unsere religiösen Tugenden, über den Islam als Rechtleitung für unser Leben. Selten sprechen wir aber über die Verirrungen, denen wir erliegen. Solche Verirrungen sind menschlich. Sie sind Ausdruck unserer Unvollkommenheit.

Aber wir dürfen sie nicht hinnehmen, wir dürfen sie nicht leugnen oder verharmlosen. Denn dann laufen wir Gefahr, dass Verirrungen nicht mehr als solche erkannt werden, ja sogar als ihr Gegenteil, nämlich als authentische muslimische Haltung missverstanden und über Generationen hinweg aufrechterhalten werden.

Zu den gravierendsten Verirrungen im Verständnis unseres Glaubens gehören zwei Phänomene, die wir als „Antisemitismus“ und „antichristliche Ressentiments“ beschreiben könnten. Aber eine solche Beschreibung wäre in sich bereits eine sprachliche Verharmlosung und damit ebenfalls eine Facette der Verirrung. Wir müssen ehrlich mit uns sein. Und wir müssen unsere Unvollkommenheiten schonungslos benennen. Nur so können wir ihnen ins Gesicht blicken und uns selbst zu Veränderungen bewegen.

Wir müssen uns eingestehen, dass es nicht nur an den Rändern unserer Gemeinschaft, sondern auch und gerade in ihrer Mitte, viel zu häufig eine tiefen Verachtung gegenüber dem Anderen, dem Fremden – in diesem Fall gegen Christ:innen und Jüd:innen gibt. Es gibt unter uns einen Hass, den wir viel zu häufig relativieren oder vermeintlich sachlich zu begründen suchen. Weltgeschichtliche Ungerechtigkeit, Kriege und Verfolgungen dienen uns dazu, diese Verachtung und diesen Hass lebendig zu halten.

Er mag nicht bei allen das gleiche Ausmaß annehmen, so dass wir den Hass immer als solchen identifizieren können. Oftmals sind es Vorurteile darüber, wie Christ:innen und Jüd:innen vermeintlich leben, welche negativen Eigenschaften sie in unserer Vorstellung haben. Mit einer solchen Vorstellung befinden wir uns aber bereits mitten in einer Gedankenwelt, in der kein Platz mehr bleibt für die individuelle Begegnung mit Christ:innen und Jüd:innen.

Das ist eine Gedankenwelt, in der Christ:innen und Jüd:innen nicht mehr als unterschiedliche Menschen, als Individuen mit persönlichen Stärken und Schwächen wahrgenommen werden, sondern in denen „der Christ“ und „der Jude“ nur mehr als kollektive Schablonen herhalten, mit denen wir ganze Gemeinschaften negativ markieren.

Oft versuchen wir, diese Haltung zu rechtfertigen, indem wir Verse aus der Offenbarung Gottes heranziehen, um unseren Hass und unsere Ablehnung zu begründen. Damit versündigen wir uns aber nur an der göttlichen Offenbarung, die uns in Gestalt des Koran anvertraut ist. Das ist ein großes Problem, das wir nicht länger von uns weisen dürfen. Wir müssen uns diesem Problem stellen – heute mit einem außergewöhnlich langen Freitagswort.

Ja, es ist richtig, dass unsere göttliche Offenbarung Verse enthält, in welchen die christlichen und jüdischen Gemeinschaften sehr deutlich kritisiert werden. Es sind im wesentlichen Verse, in denen den Christ:innen vorgehalten wird, dass sie den ihnen gesandten Propheten Jesus als Gott verehren. Den Jüd:innen wiederum wird vorgehalten, dass sie die ihnen herabgesandten Gebote und Verbote verfälscht haben. Beide Gemeinschaften werden durch die Worte Gottes im Koran für ihr Verhalten getadelt.

Viel zu häufig haben wir Muslim:innen diesen göttlichen Tadel zum Anlass genommen, uns gegenüber Christ:innen und Jüd:innen schlecht zu verhalten, ihnen mit Argwohn, Ablehnung, Hass, Herabwürdigung und Schmähung zu begegnen.

Dabei richtet sich dieser Tadel weniger an Christ:innen und Jüd:innen, er richtet sich an die muslimische Gemeinschaft. Nicht ohne Anlass sind diese Verse offenbart worden und Anlass für die Herabsendung dieser Verse waren das Verhalten oder die Anfragen der Gefährt:innen des Propheten (s.a.s.). ‘Ihr seid eine Gemeinschaft des Glaubens, versammelt um einen Propheten und sie waren zu ihrer Zeit das, was ihr gerade jetzt seid. Macht nicht die gleichen Fehler, tappt nicht in die gleichen Fallen eurer menschlichen Unvollkommenheit’ – das ist häufig die implizite Grundaussage, wenn der Koran von Jüd:innen und Christ:innen spricht.

Viel zu häufig nehmen auch heute noch Menschen aus der Mitte unserer Gemeinden diesen göttlichen Tadel zum Anlass, christliche Bräuche oder Feste zu verhöhnen. Kaum einer von uns Muslim:innen hat jüdische Bekannte, mit denen sie oder er sich vertrauensvoll und freundschaftlich zugeneigt austauschen könnte.

Den Grund für diese Zustände müssen wir bei uns suchen. Denn wir halten eine eindeutige und klare göttliche Offenbarung in Händen, die uns zu einem richtigen und gerechten Verhalten gegenüber den christlichen und jüdischen Offenbarungsempfängern, den „Leuten des Buches“, „den Leuten der Schrift“, anhält.

Muslim:innen kommen in den heiligen Schriften von Jüd:innen und Christ:innen schon aufgrund der zeitlichen Abfolge der Offenbarung selbstverständlich nicht vor. Nicht überraschend sind die theologischen Fragezeichen, die wegen dieser neuen Gemeinschaft, die so ähnlich aber doch wieder so anders ist, entstanden sind. Wir als Muslim:innen finden im Koran indes deutliche Zeichen des gemeinsamen göttlichen Hintergrundes, von denen wir uns aber angewandt haben. Diesen Zeichen müssen wir uns wieder öffnen und sie lebendig werden lassen.

Die Sphäre des göttlichen Tadels dürfen wir nicht an uns reißen und zur Grundlage eines zwischenmenschlichen Werturteils machen. Damit würden wir uns göttliche Kenntnis und göttliche Macht zuschreiben – ein Verhalten, das uns Gott nicht vergeben würde. Nicht das Verurteilen ist der Zweck der Ermahnung, sondern die kritische Selbstbetrachtung.

Gerade in Fragen des Glaubens gebietet uns Gott im Koran (Sure 5, Vers 48): „[…]Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Gott wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber es ist so, damit Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Gott wird euer aller Rückkehr sein und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.“

Wie verehren alle Propheten, auch Jesus und Moses, und wir machen keinen Unterschied zwischen ihnen (Sure 2, Vers 136 oder vgl. auch Sure 2, Vers 285 oder Sure 3, Vers 84): „Sagt: Wir glauben an Gott und an das, was zu uns als Offenbarung herabgesandt wurde und an das, was Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen herabgesandt wurde und an das, was Moses und Jesus gegeben wurde und an das, was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von ihnen und wir sind Ihm ergeben.“

Jesus ist nach unserem muslimischen Verständnis, gleich Adam, durch das Wort Gottes erschaffen worden. Dies ist ein göttliches Wunder, das keinem anderen Propheten zuteilwurde. Mit diesem Wunder, mit dieser Gnade Gottes ist nur Jesus, ein Jude und Gesandter der göttlichen Offenbarung ausgezeichnet worden.

Moses ist auch nach unserem muslimischen Verständnis der einzige Prophet, zu dem Gott unmittelbar und nicht nur durch die Stimme eines Engels gesprochen hat, also ein Prophet, dem Gott unmittelbar seine Gebote und Verbote verkündet hat.

Wiederholt heißt es im Koran – trotz allen Tadels, trotz aller Kritik am Verhalten von Christ:innen und Jüd:innen im Verhältnis zu Gott (Sure 2, Vers 62 oder Sure 5, Vers 69): „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Christen und die Säbier – wer immer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt, – die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn und keine Furcht soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein.“

Und uns Muslim:innen erinnert Gott direkt durch sein Wort im Koran daran, dass es nicht um eine kategorische Ablehnung anderer aufgrund unterschiedlicher Bräuche oder ritueller Besonderheiten gehen kann, sondern nur darum, wozu diese Rituale dienen (Sure 7, Vers 159): „Und unter dem Volk Moses ist eine Gemeinschaft, die nach der Wahrheit leitet und nach ihr gerecht handelt.“

Bei aller Kritik am Verhalten der jüdischen Stämme gebietet Gott unserem Propheten (s.a.s.) ein Verhalten, das uns auch heute noch Richtschnur sein muss, wenn wir die Offenbarung ernst nehmen. Am Ende der Sure 5, Vers 13 steht das Gebot, dass wir uns selbst im Angesicht von Ungerechtigkeit oder menschlichem Fehlverhalten zum Maßstab machen müssen: „[…] Aber verzeih ihnen und lass es ihnen nach. Gott liebt die Rechtschaffenen.“

Das vorbildliche Verhalten für uns Muslim:innen kann und darf deshalb niemals Hass und Anfeindung sein, sondern stets nur Vergebung und Nachsicht.

Gott hat uns nicht durch die verschiedenen Propheten gespalten. Er verbindet uns mit dem, was allen Propheten gemeinsam ist. Von dieser Gemeinsamkeit dürfen wir uns nicht durch menschliche Schwäche und Willkür entfernen (Sure 4, Vers 123-125): „Es geht weder noch euren Wünschen, noch nach den Wünschen der Leute der Schrift. Wer Böses tut, dem wird es vergolten und der findet für sich außer Gott weder Schutzherrn, noch Helfer. Wer aber, sei es Mann oder Frau, etwas an rechtschaffenen Werken tut und dabei gläubig ist, jene werden in den Garten eingehen und es wird ihnen nicht ein Dattelkerngrübchen Unrecht zugefügt. Wer hätte eine bessere Religion, als wer sein Angesicht Gott hingibt und dabei Gutes tut und dem Glaubensbekenntnis Abrahams folgt, als Anhänger des rechten Glaubens? Und Gott nahm sich Abraham zum Freund.“

Das heißt, wir alle – Muslim:innen, Christ:innen und Jüd:innen – sind durch das Vorbild Abrahams miteinander verbunden. Ein Vorbild, dass uns nicht durch konfessionelle Unterschiede trennt, sondern durch die unmittelbare Hingabe und Ergebenheit zu Gott eint.

Durch unsere menschlichen Schwächen und die Versuchungen des Hasses haben wir selbst dieses Vorbild zum Anlass für Zwist und Eifersucht genommen und streiten darüber, ob er seinen Sohn Isaak oder Ismael hatte opfern wollen.

Über diesen Streit vergessen wir, dass es doch die Gnade Gottes ist, die uns in jedem Fall verbindet. Wir sind im Schatten Abrahams einander fest verbunden, wir sind einander anvertraut. Wir tragen wechselseitig Verantwortung dafür, dass unser Leib und Leben, unser Hab und Gut und unsere Gebetsstätten unversehrt bleiben.

Die Worte „Christ“ und „Jude“ drücken die Angehörigkeit zu zwei Gemeinschaften aus, denen Gott seine Offenbarung anvertraut hat. Wir dürfen nicht hinnehmen oder tatenlos zusehen, dass diese Begriffe zu Schimpfworten, zu Beleidigungen abgewertet werden.

Kein Christ, keine Christin und kein Jude, keine Jüdin dürfen sich in der Gegenwart von Muslim:innen unsicher fühlen oder Sorge um ihr Wohl haben. Es ist unsere Aufgabe und Verantwortung als Muslim:innen, dass sich Christ:innen und Jüd:innen nirgends sicherer und behüteter fühlen, als in unserer Nähe. Denn wir sind die Nachkommen von Brüdern. Wir sind Verwandte einer gemeinsamen Offenbarung.

Etwaiges Unrecht, das wir beklagen, darf uns nicht daran hindern, uns gemäß den Worten Gottes rechtschaffen und gerecht zu verhalten. Und wenn wir als Muslim:innen irgendeine Überlegenheit für uns reklamieren wollen, dann gerade diese, dass wir geduldig mit gutem Beispiel vorangehen, um unsere Gemeinschaften zu versöhnen und zwischen uns Gerechtigkeit und Respekt gedeihen zu lassen.