Dieses Freitagswort ist notwendig. Vielleicht notwendiger als viele Freitagsworte davor. Denn dieses Freitagswort spricht ein Thema an, das wir in unserer muslimischen Gemeinschaft tabuisieren. Wir schweigen hartnäckig zu diesem Thema. Denn das, was wir in den meisten Fällen dazu zu sagen haben, besteht aus Ablehnung und Ächtung. Und das ist noch vorsichtig formuliert.
Unser gemeinschaftlicher Umgang mit dem Thema Homosexualität und unser Umgang mit Menschen aus der LGBT-Community offenbart mit seinen verkrampften Abwehrreflexen, wie gestört wir uns von diesem Thema, ja von queeren Menschen selbst, fühlen. Ihre Anwesenheit, ihre Nähe verstört uns. Über dieses Thema zu reden, ist uns unangenehm.
Wir wollen weder über dieses Thema reden, noch wollen wir die Nähe zu queeren Menschen. Diese Abwehrhaltung und peinlich berührte Ignoranz weisen auf ein Problem hin, das in unseren Reihen präsent ist. Darauf muss sich unser Blick konzentrieren.
Es geht in diesem Freitagswort nicht darum, Sexualpraktiken theologisch zu legitimieren, die in der Mehrheit der Lehrmeinungen als religiös verboten gelten. Über dieses Thema mögen die theologischen Experten streiten. In diesem Text geht es um etwas anderes: Gemessen an der Häufigkeit seiner Erwähnung im Koran scheint das Thema Homosexualität für unser Verhältnis zu Allah weniger relevant zu sein, als zum Beispiel die Themen Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, Friedfertigkeit oder Nachsicht und Rücksichtnahme. Gleichwohl kehren wir in unserer tatsächlichen Religionspraxis dieses Verhältnis um. Warum tun wir das?
Die Ebene der theologischen Verbote und Gebote, die Ebene von Frömmigkeit oder Sünde betrifft den einzelnen Menschen und sein individuelles Verhältnis zu Allah. Niemand hat sich in dieses Verhältnis einzumischen oder urteilend einzugreifen.
Was zwei volljährige Menschen füreinander empfinden und wie sie sich freiwillig und einvernehmlich zueinander verhalten, ob und wie sie sich lieben, darf nicht Gegenstand unserer persönlichen Wertung sein. Die Entscheidung darüber, ob und was sich in einer solchen Beziehung an den Kategorien von Frömmigkeit, von göttlicher Vergebung oder Strafe orientiert, muss der göttlichen Instanz vorbehalten bleiben und darf nicht Gegenstand menschlicher Bewertung sein.
Gleichwohl hat kein anderes Thema in unserer muslimischen Gemeinschaft eine ähnlich stigmatisierende und ausgrenzende Wirkung wie unsere kollektive Ablehnung queerer Menschen. Unsere Stigmatisierung reicht von Vorwürfen der Besessenheit, über die Pathologisierung und damit einhergehenden Vorstellungen von zu erzwingender medizinischer Heilung, bis hin zu offener Aggression und Legitimation von Gewalt gegen queere, insbesondere homosexuelle Menschen.
Diese Vehemenz der Ablehnung äußert sich auch in der absoluten Tabuisierung dieses Themas im Kontext unserer religiösen Praxis. In Moscheen und ihren Gemeinden dürfen queere Menschen kaum auf Verständnis oder auch nur auf Offenheit und Unvoreingenommenheit hoffen. Geistlicher Beistand in Gewissensfragen, zum Beispiel rund um das Thema Homosexuallität, äußert sich häufig in Verdrängung, Aufforderung zur Selbsttabuisierung oder gar in offen stigmatisierender Ablehnung.
Solche heftigen Reaktionen beobachten wir nicht bei Themen, die im Koran weitaus deutlicher, häufiger und stärker als religiöse Verstöße beschrieben werden. Diese Ambivalenz hat Gründe, die mehr mit unseren Vorstellungen als Gesellschaft zu tun haben, als mit queeren Menschen selbst.
In unserer muslimischen Gemeinschaft existiert – befördert durch patriarchalische Gesellschaftsbilder – ein geradezu toxisches Männlichkeitsbild. Es ist geprägt von einem (Selbst-)Bild des Mannes als dominant, potent, stark, durchsetzungsfähig, machtvoll und überlegen. Jede Einschränkung, jede Relativierung dieses Selbstbildes führt zu Irritationen, auf die wir mit Ablehnung und Aggression reagieren.
Die Würde eines Menschen, seine Erschaffenheit durch und seine Zugewandtheit zu Allah, seine Hoffnung auf Vergebung und Annahme, seine Rechtschaffenheit, seine Tugenden und guten Werke, sein Einsatz für die Gemeinschaft ändern sich aber nicht nach der Beschaffenheit seines Geschlechts, nach der Natur seiner geschlechtlichen Identität oder danach, wen dieser Mensch liebt.
Die unermessliche Gnade Allahs, der vergibt, wem er will und der richtet, wen er will, darf durch uns nicht zum Luxusgut pervertiert werden, das wir bestimmten Menschen vorenthalten oder über das wir uns Verfügungsmacht zuschreiben.
Diese Freitagsworte können keine letztgültigen Antworten formulieren. Sie können und müssen aber Probleme benennen und sichtbar machen, die wir viel zu lange verdrängt haben.
Was ist das für eine Gemeinschaft, in der die Liebe von Vätern und Müttern zu ihren Kindern von deren sexueller Identität abhängen soll? Was ist das für eine Gemeinschaft, in der sich viele Menschen nicht angenommen fühlen können, sich mit ihren Ängsten und Sorgen nicht in die geistige Fürsorge ihres religiösen Personals begeben können, weil sie gerade dort mit der vehementesten Ablehnung rechnen müssen?
Was ist das für eine Gemeinschaft, die im Hochmut über die vermeintliche moralische Makellosigkeit der eigenen Lebensführung sich zur Richterin ihres Nächsten aufschwingt und ihm jeden Selbstwert abspricht und jede Achtung als Mensch verweigert?
Was ist das für eine religiöse Gemeinschaft, was ist das für eine Familie, in der man sich mit den schwierigsten Fragen seiner Selbstfindung nicht vertrauensvoll und frei von Angst seinen Brüdern und Schwestern anvertrauen kann?
Nicht schwule oder lesbische, nicht bi-, trans- oder intersexuelle Menschen sind ein Problem. Es ist ein Problem, dass wir als muslimische Gemeinschaft auf die obigen Fragen keine Antworten haben und dass wir trotzdem immer noch das offene Gespräch über diese Fragen scheuen und weiter so tun, als ob diese Menschen für uns nicht existieren. Darüber müssen wir endlich reden.