Gewissensfragen

Gewöhnlich findet sich freitags an dieser Stelle ein Text, mit dem das Thema Spiritualität im Islam angesprochen wird. Oder die Autoren versuchen, eben jene Spiritualität durch ihre Texte spürbar zu machen. Aber zuweilen hat man das Gefühl, dass die äußeren Bedingungen unserer Existenz unsere Gedankenwelt derart überlagern, dass kein Platz mehr für Spiritualität bleibt, dass die Kakophonie menschlicher Verfehlungen so laut wird, dass man seine innere Stimme nicht mehr hören kann. Dieser Lärm übertönt jeden Versuch der inneren Einkehr und hindert uns daran, uns auf das Wesentliche zu besinnen.

Das Randständige, das Unbedeutende ist in solchen Momenten derart penetrant und übergriffig, dass es nicht mehr ausreicht, diese Einflüsse zu ignorieren. Dieser Lärm versucht die vorsichtigen und bedachten Stimmen, die sich mit den Existenzbedingungen der Muslime in Deutschland beschäftigen, zu übertönen. Es ist ein Umgangston, der von Hass und dem Wunsch nach Ausgrenzung getrieben wird.

Solche Wünsche entstehen nicht in Momenten der Stärke. Sie sind das Ergebnis von Unsicherheit, von eigener Ungewissheit und damit Manifestationen einer verdrängten Schwäche.

In solchen Momenten können Glaubenswelten ins Wanken geraten. Es sind Verhaltensweisen, die darauf hindeuten, dass wesentliche Fundamente unseres Glaubens nicht mehr richtig verankert sind. Sie erzeugen dadurch Augenblicke der Unglaubwürdigkeit und sind damit dazu geeignet, Menschen vom Glauben wegzuführen. 

Wir können uns nicht fruchtbar mit Koranversen, Glaubensgrundsätzen, Prophetenworten oder Offenbarungsbotschaften beschäftigen, wenn die wesentlichen Grundsätze unseres zwischenmenschlichen Miteinanders und die wesentlichen Fundamente unserer Glaubensbereitschaft versehrt sind, wenn sie brüchig geworden sind durch die Relativierungen des Alltages und die Kompromisse, die wir eingegangen sind, um ganz persönlichen Geltungsansprüchen zu genügen. 

Deshalb soll dieses Freitagswort dazu dienen, dabei helfen, uns einige wichtige Elemente – verschüttete Selbstverständlichkeiten – unseres Glaubensverständnisses wieder ins Bewusstsein zu bringen:

– Niemand ist unfehlbar. Die Gewissheit, das eigene Tun sei vollkommen, ist eine Illusion. Diese Gewissheit müssen wir immer wieder hinterfragen, immer wieder anzweifeln.

– Der Islam ist keiner Organisation, keinem Verein, keiner Berufsgruppe anvertraut, sondern jedem einzelnen Menschen. Der Koran beschreibt (auch) eine individuelle Gotteserfahrung und leitet aus ihr eine individuelle Verantwortung ab „ […] Fand er dich nicht irrend und leitete dich? Fand er dich nicht bedürftig und machte dich reich? So tu der Waise nicht Unrecht, weise den Bittenden nicht ab und kündige von der Gnade deines Herrn!“ (vgl. Sure 93, 7 ff.) Wer kann sich anmaßen, andere Muslime daran zu hindern oder dafür zu schelten, dass sie ihre individuelle Erfahrung von der Gnade ihres Herren mit der Welt teilen?

– Berufliche oder soziale Hierarchien sind keine Hierarchien der Frömmigkeit

– Auch Autoritäten, auch solche staatlichen Charakters oder aufgrund sozialen Ansehens, sind fehlbar.

– Wer nicht bereit ist, sich zu verändern, kann sich nicht verbessern, kann sich nicht läutern und verweigert sich bereits dem Versuch, sich zu vervollkommnen. 

– Über weltliche Macht zu verfügen, bedeutet nicht, im Recht zu sein.

– David bringt Goliath zu Fall, nicht weil sein Arm so stark ist, sondern weil Goliath sich für unbezwingbar hält.

– Was Adam von den anderen Geschöpfen unterscheidet, was ihn zum Menschen macht, ist seine Fähigkeit zur Auflehnung, zum Widerspruch, seine Verweigerung unbedingten Gehorsams.

– Wer Fehler verdeckt, hilft nicht dabei, sie zu korrigieren.

– Die Wahrheit, so schmerzlich sie im Augenblick auch sein mag, ist auf lange Sicht nie so schädlich wie die Lüge.

– Der Wettstreit in den guten Taten ist kein Konkurrenzkampf zwischen Gegnern. Er ist die Mühe, einander geschwisterlich zu Besserem anzuspornen. 

– Der Glanz des Hochmuts kann einen derart blenden, dass millionenfaches Unrecht nicht mehr wahrgenommen wird – obwohl es einem Tag für Tag vor Augen steht.

– Frömmigkeit ist nicht messbar, schon gar nicht an Äußerlichkeiten erkennbar. Deshalb sollte niemand sich anmaßen, über das Unsichtbare zu urteilen.   

– Kritik ist keine Respektlosigkeit. Kritik ist keine Beleidigung. Kritik ist der Ausdruck größter Zuneigung, denn der Kritiker will, dass der Gegenstand seiner Kritik sich verbessert.

– Ein Imam betet mit dem Rücken zur Gemeinde, weil die Gemeinde sich nur vor Allah verbeugt, aber nicht vor dem Imam.

– Mögen wir uns stets daran erinnern, was wir bei jedem Ritualgebet rezitieren: „[…] Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derjenigen, denen Du Deine Gunst erwiesen hast, nicht derjenigen, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht der Irregehenden.“ (Vgl. Sure 1)

Machen wir uns immer wieder aufs Neue bewusst, dass ein Weg nicht zum geraden Weg wird, nur weil die scheinbar Begünstigten ihn beschreiten. Vielmehr müssen wir uns auf den tatsächlich geraden Weg begeben, um Seine Gunst zu erlangen. Und möge Er uns die Einsicht schenken, beides voneinander unterscheiden zu können.