Woran glauben wir?

In unseren muslimischen Gemeinschaften gibt es eine Redewendung, ein Zitat, welches häufig verwendet wird, wenn man aus einer vermeintlich sehr frommen, sehr religiösen Haltung heraus andere ermahnen will: „Wer nicht danach lebt, was er glaubt, wird anfangen, so zu glauben, wie er lebt.“ Das heißt, eine vermeintlich nach außen hin wenig an rituellen Praktiken und religiösen Geboten und Verboten orientierte Lebensweise führe über kurz oder lang zu einem schwächeren Glauben, ja sogar zum Glaubensverlust.
Das ist eine sehr selbstgefällige und selbstgerechte Meinung von Menschen, die sich grundsätzlich als Glaubensgeschwister begegnen wollen. Und es ist eine unaufrichtige Haltung. Denn sie weicht der Frage aus, woran wir Muslime glauben. In den letzten 20 Jahren der Islamdebatte in Deutschland erinnere ich mich an keinen Moment, in dem muslimische Stimmen in der Öffentlichkeit erklärt hätten, woran wir Muslime eigentlich glauben.

Ständig dominiert im öffentlichen Reden der Fokus auf das „Wie“ unserer Glaubenspraktiken. Kopftuch, Speisevorschriften, Alkoholverbot, Sexualmoral, Geschlechterrollen etc. – als das sind doch nicht Bezüge unseres Glaubens. Es sind Erscheinungsformen des „Wie“ einer Glaubenspraxis, die gemeinschaftlich tradiert wird, lange nachdem die Gewissensfrage des Glaubens nach dem „Woran“ individuell beantwortet wurde.

Welchem Sinn und Zweck folgt unsere Glaubensüberzeugung? Was ist das Glaubwürdige unserer Überzeugung? Woran glauben wir Muslime eigentlich?

Jeder muss darauf seine individuelle Antwort finden. Aber ich bin schon davon überzeugt, dass unsere schriftlichen Glaubensinhalte uns Hinweise auf diese Antwort geben. Meiner Überzeugung nach antworten Muslime im Grunde täglich, mehrfach selbst auf die Frage nach dem „Woran“ – durch ihre wiederholte Rezitation der Sure Fatiha während des Gebets:

„Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Alles Lob gehört Allah, dem Herrn der Welten,
Dem Allerbarmer, dem Barmherzigen,
Dem Herrscher am Tag des Gerichts.
Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe.
Leite uns den geraden Weg,
Den Weg derjenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, nicht derjenigen, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht der Irregehenden!“

Meinem Verständnis dieser Zeilen nach glauben und handeln Muslime, um Gott zu dienen. Sie dienen ihm, indem sie seiner Gnade „Rahma“ folgen – und Grausamkeit ablehnen. Indem sie die Gerechtigkeit „Al Adl“ leben – und sich dem Unrecht und der Unterdrückung entgegenstellen. Indem sie das Gemeinwohl „Maslaha“ fördern – und Schaden von ihren Mitmenschen und der Schöpfung abwenden. Indem sie ihr Wissen „Hikma“ mehren – und über den Irrtum aufklären.

Das kann eine mögliche Antwort auf die Frage sein, woran Muslime eigentlich glauben. Ihr muss stets die Selbstbefragung folgen, ob Muslime jeden Tag auch nach diesem Glauben leben. Es reicht nicht, ob oder dass eine Religion für die Glaubensangehörigen selbst gut und schön ist. Im pluralistischen gesellschaftlichen Kontext kommt es vielmehr auf die Frage an, ob die Glaubensangehörigen gut darin sind, dieses Potenzial der gesamten Gesellschaft vorzuleben und damit für alle nutzbar zu machen.

Wer sich ständig mit dem Kopftuch oder dem gesellschaftlichen Status von Frauen beschäftigt oder die strenge Einhaltung von äußeren Ritualen überwacht, hat noch nichts dazu beigetragen, eine mitfühlende, gerechte, fürsorgliche, aufgeklärte Gesellschaftsordnung zu etablieren.

Sind also unsere aktuellen Zustände nicht vielmehr das Abbild eines Glaubens, der sich an dem orientiert, was wir vermeintlich für eine fromme Lebensweise erachten? Es sind die angeblich konservativen, angeblich frommen und strengpraktizierenden Strukturen, in denen die traditionellen Vorstellung über eine „richtige Lebensführung“ das „Wie“ des Glaubens modellieren.

Wir glauben viel zu oft so, wie uns beigebracht wurde, dass wir leben sollen. Wir leben viel zu selten so, wie uns offenbart wurde, zu glauben. Könnte es sein, dass dieser Widerspruch weit mehr zu den Zuständen unserer Existenz beiträgt als jeder noch so negative äußere Einfluss?