Ihr werdet, was wir sind

Aus dem antiken Rom ist bekannt, dass während der Siegeszüge erfolgreicher Feldherren, diese von einem Sklaven begleitet wurden, der in ständiger Wiederholung folgende Worte sprach:

„Memento mori.

Memento te hominem esse.

Respice post te, hominem te esse memento.“

„Bedenke, dass du sterben wirst.

Bedenke, dass du ein Mensch bist.

Sieh dich um und bedenke, dass auch du nur ein Mensch bist.“

Diesen stets präsenten Gedanken der Vergänglichkeit kennen wir zum Beispiel auch aus Motiven des „Totentanzes“.

In seiner heute bekannten und in vielen Kulturen weit verbreiteten Form geht die mahnende Erinnerung an unseren Tod auf den arabischen Dichter Adi bin Zayd aus dem späten 6. Jahrhundert zurück. Dieser lässt die Toten aus ihren Gräbern zu einem vorbeireitenden König rufen:

„Wir waren, was ihr seid;

Doch kommen wird die Zeit,

Und kommen wird sie euch geschwind,

wo ihr sein werdet, was wir sind.“

Unsere muslimischen Bestattungsriten sind darauf ausgerichtet, die Verstorbenen möglichst schnell zu beerdigen. Das ist bei einer sarglosen Bestattung nur im Leichentuch sicher auch sinnvoll und von durchgreifenden praktischen Beweggründen getragen. Aber diese Eile, dieses Getriebene sorgt für eine derartige emotionale Überwältigung, die nicht nur zu einer vielleicht kurzfristig nützlichen Betäubung von Schmerz, sondern eben auch zu einer inneren Einsamkeit in der empfundenen Trauer führt.

Unsere Riten lassen eine aktive Trauer und einen verbalisierten Prozess der Trauerbewältigung kaum zu. Es gibt den Moment der Leichenwaschung. Es sind sehr intime, sehr zärtliche Minuten der intensiven Nähe und Vorbereitung des verstorbenen Körpers auf die Beerdigung. Man kommt der oder dem Toten so nah, wie kaum zu Lebzeiten. Es sind Momente der letzten körperlichen Fürsorge und Pflege. Man wäscht den gesamten Körper. Die Füße, die Beine, die Hände, die Arme, den Rücken, die Brust, das Gesicht. Man streicht über die Augenlider, über die Haare.

Als Angehöriger ist der Schmerz des Verlustes in diesen Momenten besonders intensiv und liegt nur wenige Stunden oder Tage zurück. Man ist unerfahren in den praktischen Ritualen und Handgriffen. Man möchte alles richtig machen und immer wieder bricht die Ohnmacht sich Bahn, diesen Zustand des geliebten Menschen nicht mehr verändern zu können. Man wünscht sich, allein zu sein mit dem Leichnam und gleichzeitig ist man angewiesen auf die Anleitung des Imam, wie genau zu waschen ist, wie genau die Leichentücher gewickelt werden müssen.

Viel hängt davon ab, ob man es in der Person des Imam mit einem taktvollen, sensiblen Menschen zu tun hat. Man ahnt, dass dies für ihn quasi zum beruflichen Alltag gehört. Er ist routiniert. Vielleicht braucht es auch eine professionelle Distanz, um von dieser Arbeit nicht überwältigt zu werden. Dennoch sind es schwierige Augenblicke, wenn man merkt, dass der Imam auf die Uhr guckt, die bevorstehende Gebetszeit nicht verzögern will und zur raschen Beendigung der Waschungsrituale drängt. Als Betroffener sind einem solche praktischen Gedanken und Sorgen in dieser Situation viel zu fern. Man will den Verstorbenen in Ruhe noch ein letztes Mal berühren, noch ein letztes Mal ansehen, bevor auch das Gesicht unter dem Leichentuch verschwindet.

Am Grabfeld steigt man zunächst selbst ins ausgehobene Grab. Es sind eindringliche Momente. Die Trauergemeinde reicht den Leichnam ins Grab hinunter, man nimmt ihn entgegen und man bettet den geliebten Menschen eigenhändig zur letzten Ruhe. Irgendwie will man das Grab nicht verlassen, weil man weiß, dass es keine warme Decke sein wird, mit der man den Verstorbenen gleich zudeckt. Das Hinaufsteigen aus dem Grab gibt einem das Gefühl, heute, in diesem Augenblick, dem letztlich gewissen eigenen Tod für unbestimmte Zeit entronnen zu sein.

Danach bleibt man stumm. Man nimmt die Beileidsbekundungen entgegen. Erwidert diese in höflichen Floskeln, ohne sich selbst reden zu hören. Man lauscht den Koranrezitationen, die auf wundersame Weise einem das Innerste aufwühlen, um dann Sekunden später für eine innere Ruhe und Kraft zu sorgen. Man schließt das Grab, geht nach Hause, empfängt an den folgenden Tagen den Besuch von Freunden und Bekannten. Man hört zu, schweigt, bleibt mit den eigenen Gedanken für sich allein.

Die praktischen Rituale bis zur Bestattung und die Minuten und Stunden während der Beerdigung lassen kaum Raum für eigene Worte über den verstorbenen Menschen. Wer diese Person war, was sie einem bedeutet hat, wie man sich an sie erinnert, was ihr wichtig war, was sie uns noch mitgeben wollte, woran sie Freude hatte, was ihre Einzigartigkeit ausmachte. Das auszusprechen, dafür fehlt es häufig an eingeübten Ritualen oder Momenten.  

Vielleicht sollten wir überlegen, ob es sich lohnt, unsere Trauerrituale zu verändern. Oder auch nur zu ergänzen. Um Augenblicke, in denen wir über die Verstorbenen reden. Um sie ein letztes Mal in unseren Erinnerungen lebendig werden zu lassen, bevor wir vergessen, wie ihre Stimmen klangen, wie ihr Lächeln aussah und wie sie dufteten.

Denn bald werden auch wir, was sie jetzt sind.