Der Tanz um das goldene Ich

Der Mensch neigt dazu, sich abzugrenzen. Es ist aber mehr als ein Revierinstinkt, der bei vielen Geschöpfen in der Natur zu beobachten ist. Es geht dabei weniger um die Markierung eines Territoriums, welches durch Inbesitznahme und Verteidigung gegenüber Konkurrenten den eigenen Fortbestand sichern soll. Gleichwohl wir in dieser Beschreibung durchaus auch die zerstörerischen Ideologien um kollektiven „Lebensraum“ erkennen können, ist hier ein anderes Phänomen gemeint.

Es gehört zu den Versuchungen des Menschen, sich durch individuelle Zuschreibungen ein höheres Maß an Achtung und Wertigkeit beizumessen. Der individuelle Ansatz wird dabei gerechtfertigt durch die Ausdehnung dieser Perspektive auf das eigene Kollektiv. Das heißt, die individuelle Eitelkeit des Menschen versucht sich zu rechtfertigen, indem sie sich Komplizen schafft. Plötzlich sind es „Wir“, die anders, nämlich besser und anderen überlegen sind.

In einer solchen Gedankenwelt gibt es dann zwangsläufig keine Differenzierungen. Es gibt nur noch die Kategorien des Absoluten. Das „Wir“ wird als das absolut Gute idealisiert. Das „Ihr“, das Andere, wird in die Rolle des absoluten Bösen verwiesen. Nur durch diese rigorose Grenzziehung gelingt die Aufrechterhaltung der Gedankenfigur kollektiver Überlegenheit.

Im Bereich des Religiösen ist dieser Mechanismus deshalb so verlockend und gefährlich, bezieht er seine vermeintliche Legitimation ja aus einer transzendenten Sphäre, die auf Skepsis und Hinterfragung jedenfalls nicht unmittelbar antwortet.

Formulieren wir diese abstrakten Gedanken jetzt konkreter: Wir Muslime neigen dazu, aus dem historischen Status als letzte Offenbarungsempfänger einen qualitativen Anspruch für unsere Gemeinschaft abzuleiten. Dabei verlieren wir aus den Augen, dass niemand ein besserer Mensch ist, nur weil er sich zum Islam bekennt.

Dies gilt natürlich auch für jede andere Religion: Mit dem Glaubensbekenntnis geht keine kategorische Veränderung der menschlichen Natur einher. Wir bleiben unvollkommen und fehlbar.

In unserer Gemeinschaft ist ein Verhalten zu beobachten, das Probleme leugnet, weil sie nicht mit dem Bild eines idealtypischen Muslim zu vereinbaren sind. Dabei wird nicht erkannt, dass das Streben nach diesem Idealtypus für den seiner Natur nach fehlbaren Menschen eben ein lebenslanges Bemühen bleibt und niemals sein Ziel der Vervollkommnung erreichen kann.

Wir verkennen dabei, dass eine kategorische Bewertung nach Gruppenzugehörigkeit dem Inhalt der islamischen Offenbarung widerspricht. Im Koran finden wir zahlreiche Beschreibungen eines guten, anständigen Menschen. Stets sind es konkrete, individuelle Handlungsnormen, die eine solche Bewertung stützen, nie abstrakt-kollektive Zugehörigkeiten.

Der Koran selbst erinnert daran, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime noch lange nicht bedeutet, gläubig geworden zu sein. Das Bekenntnis, die bekundete Glaubensüberzeugung muss sich erst noch dadurch beweisen, dass sie in das Herz des Menschen dringt und sein Handeln anleitet (vgl. Sure 49, Vers 14). Nicht eine Gemeinschaft als solche, nach formalen Eigenschaften der Zugehörigkeit, ist das Idealbild des Koran, sondern eine Gemeinschaft, die zum Guten aufruft und das Schlechte verbietet – also ihre Überzeugungen zum Wohle aller konkret umsetzt (vgl. Sure 3, Vers 110).

Natürlich wissen wir, dass der schwarze Bilal einer der ersten Anhänger des Propheten (s.a.s.) gewesen ist, dass er es war, der den ersten Gebetsruf in Medina anstimmte. Und dass er es war, der als erster Muslim vom Dach der Kaaba in Mekka die Menschen zum Gebet rief. Aber deshalb können wir nicht die Augen davor verschließen, dass es eben auch Muslime waren, die vom Sklavenhandel profitierten. Und dass es bis heute rassistische Ablehnung schwarzer Menschen unter Muslimen gibt.

Natürlich kennen wir die Abschiedspredigt unseres Propheten (s.a.s.) in welcher er dazu ermahnt, keinen Unterschied zwischen den Menschen zu machen und keine qualitativen Hierarchien zwischen den Menschen zu schaffen. Aber deshalb können wir nicht leugnen, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens gerade auch in muslimisch geprägten Herrschaftsgebieten den Status von Kriegsbeute und Eigentum hatten. Und dass selbst heute noch, gerade in den historischen Kernländern des Islam Menschen anderen Glaubens oder auch nur anderer Abstammung ein Leben in faktischer Leibeigenschaft und im regelrechten Frondienst verbringen und ohne effektiven Rechtsschutz der Willkür von Vorgesetzten ausgeliefert sind.

Das alles entwertet nicht die islamische Offenbarung. Es erinnert uns nur daran, dass wir als Muslime dem Idealbild des Menschen, wie es sich uns in der uns anvertrauten Offenbarung zu erkennen gibt, noch lange nicht entsprechen und auf diesem Weg noch große Anstrengungen erbringen müssen.

Diese Einsicht muss uns Mahnung und Erinnerung sein, unsere Eigenschaft als Muslime nicht als qualitative Garantie zu empfinden, sondern als eine Aufforderung zur Demut, zur Bescheidenheit und zur Besserung des eigenen Verhaltens.

Eine Gemeinschaft, die Probleme leugnet, statt sie als solche zu erkennen, kann aus dieser Erinnerung nicht die notwendigen praktischen Konsequenzen zur Vervollkommnung des eigenen Handelns ableiten. Eine Gemeinschaft, die von sich meint, keine Fehler, keine Probleme zu haben, kann sich nicht zum Besseren entwickeln und bleibt dazu verurteilt, ihre Fehler zu wiederholen.

Eine solche Gemeinschaft läuft Gefahr, sich in der eigenen Selbstgewissheit und damit im Tanz um das eigene, goldene Ich zu verlieren.