Wer sind unsere Brüder und Schwestern?

In unserer gemeinschaftlichen Sprache gibt es die Besonderheit, die durch das gleiche Glaubensbekenntnis gestiftete Nähe zueinander auch in der persönlichen Ansprache wirksam werden zu lassen. Das innermuslimische Verständnis von einer weltumspannenden Umma, einer engen Gemeinschaft aller muslimischen Menschen, wird als Ideal so sehr herbeigesehnt, dass sie bereits sprachlich schon vorweggenommen wird.

Diese erstrebte, manchmal schon aufdringlich erzwungene Nähe und quasi verwandtschaftliche Verbundenheit trägt in letzter Konsequenz dann auch sehr merkwürdige Stilblüten. So habe ich es schon erlebt, dass der Heiratswunsch eines muslimischen Mannes mit den Worten „Bruder sucht Schwester zum Heiraten“ beschrieben wurde.

Darüber kann man noch schmunzeln. Weniger erheiternd sind die tatsächlichen Zustände innerhalb unserer muslimischen Gemeinschaften, in denen das Miteinander häufig genug nicht dem Ideal einer fürsorglichen familiären Nähe folgt.

So wie das Verständnis von Frömmigkeit und Glaubensfestigkeit sich immer mehr bloß an Äußerlichkeiten, an Erscheinungsmerkmalen und religionspraktischen Ritualen orientiert, geht es auch im Bereich der zwischenmenschlichen Nähe immer weniger um Authentizität und immer häufiger um die Oberfläche des Seins.

Gerade mit Blick auf mehrheitlich muslimisch geprägte Gesellschaften fällt auf, dass zum Beispiel in der Türkei die Gruppe der jungen Menschen mit atheistischen oder agnostischen Welt- und Glaubensanschauungen immer größer wird. Sie erleben unter einem Regime, das sich ausdrücklich religiös definiert und seine religiöse Prägung geradezu zur Schau stellt, ein bisher ungekanntes Ausmaß an staatlicher Willkür, Nepotismus, Korruption, Oligarchie, Freiheitseinschränkungen und den Zerfall einer unabhängigen Justiz und damit des Rechtsstaates insgesamt.

Wenn das der Charakter einer religiös sensiblen, ausdrücklich muslimischen Regierung ist, will man dann als junger muslimischer Mensch überhaupt noch muslimisch sein?

Dieses Phänomen erkennen wir auch bei dem Blick auf den häufigsten männlichen Namen innerhalb muslimischer Gemeinschaften – Mohammed. Vom Wunsch getragen, der Knabe möge dem prophetischen Vorbild folgend zum anständigen und tugendhaften Mann heranwachsen, stoßen wir gefühlt nahezu bei jedem dritten Muslim auf einen Mohammed. Nur, dass diese eben auch verwerfliche, unmoralische Dinge tun können, so dass nicht selten ein Mohammed wegen Diebstahls, Körperverletzung oder noch weitaus Schlimmerem vor Gericht steht.

Es kommt also nicht darauf an, woran jemand glaubt oder nicht glaubt. Es kommt nicht darauf an, wie jemand erscheint. Es kommt immer nur darauf an, wofür sich jemand einsetzt, worauf sein Tun gerichtet ist.

Man kann Schulter an Schulter beim Gebet stehen und doch an etwas völlig anderes glauben, völlig andere Dinge für richtig oder falsch halten.

Zum Bruder oder zur Schwester im Glauben wird man nicht durch das gleiche Bekenntnis, sondern vielmehr durch die gleiche Absicht und das gleiche Ziel des Handelns.