Das Wesen der Prüfung

In diesen Tagen erleben wir eine verheerende Flutkatastrophe im Westen unseres Landes. Besonders betroffen vom Hochwasser und den zerstörerischen Folgen des Starkregens sind unsere Nachbarn und Mitbürger in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Wir haben Tote und Verletzte zu beklagen. Viele Menschen vermissen immer noch ihre liebsten Angehörigen und leiden schwer an dieser Ungewissheit. Viele haben die eigene Wohnung, ihr Haus, Hab und Gut von materiellem und ideellem Wert verloren.

In diesen Stunden beten wir für ewigen Frieden für die Verstorbenen, für Kraft und Geduld für die vom Verlust betroffenen Angehörigen und Hinterbliebenen. Wir beten für den Beistand des Allmächtigen für all jene, die verzweifelt sind und voller Sorgen in die Zukunft blicken. Wir beten für die vielen Hilfskräfte, Feuerwehr, Polizei, Ärztinnen und Ärzte, für alle Rettungskräfte und für alle, die den Bedürftigen helfen und beistehen.

Einmal mehr bleiben wir irritiert zurück, wie die Kräfte der Natur, die uns nähren und uns Leben schenken, schlagartig mit einer unbändigen zerstörerischen Kraft über uns hereinbrechen. Was wir in Zeiten der Hitze und Dürre herbeisehen, was unsere Felder bewässert und unsere Nahrung wachsen lässt, wandelt sich binnen Stunden in eine Macht, die unser Leben bedroht. Wir aber stehen machtlos vor dem Anblick, der sich als Folge solcher Naturkatstrophen bietet.

In solchen Zeiten der Not und der Verzweiflung neigen wir Menschen dazu, mit unserem Schöpfer zu hadern, gar an ihm zu zweifeln. Wie kann der Allmächtige allbarmherzig sein, wenn er eine solche Katastrophe zulässt? Die Allmacht unseres Schöpfers wollen wir in solchen Situationen daran prüfen, ob er behütend, rettend, Zerstörerisches verhindernd in unser Leben eingreift.

Wir machen Ihn im Moment der Not verantwortlich für unseren Verlust. Solche Momente sind nach muslimischem Verständnis Zeiten der Prüfung. Sehr häufig missdeuten wir diese Prüfung aber als körperliche Prüfung der Leidensfähigkeit und des stillen Erduldens von Schmerz und Zerstörung. Wir glauben, häufig genug, unsere Prüfung bestehe darin, einfach nur auszuhalten.

Damit offenbaren wir auf zwei Ebenen unsere Blindheit für die Botschaft unseres Glaubens. Wir verstehen uns als Geschöpfe, die sich durch ihren freien Willen vom Rest der Schöpfung unterscheiden. Gleichzeitig glauben wir aber, im Angesicht eines katastrophalen Naturereignisses nur instinktiv handeln zu können und darüber hinaus der Natur nur ausgeliefert zu sein.

Und wir verstehen unseren Schöpfer als eine Instanz, die einen Teil seiner Schöpfung, also uns, mit den Kräften der von ihm erschaffenen Natur peinigt oder gar straft.

Wird es nicht Zeit, dass wir uns von so einem Verständnis lösen und uns fragen, worin die Prüfung durch eine Naturkatastrophe heute tatsächlich besteht?

Durch unseren Verstand sind wir in der Lage, die Kräfte der Natur zu erkennen, ihre Wirkung abzuschätzen, sie sogar vorherzusagen. Gleichzeitig wissen wir, dass wir durch unser Verhalten, durch unsere Lebensweise die Natur verändern, in ihr Gleichgewicht eingreifen und sie teilweise unumkehrbar schädigen – all das tun wir, um eine bestimmte Vorstellung von Wohlstand und materiellem Reichtum zu bewahren und zu mehren.

Naturkatastrophen treffen uns indes nicht als Instrumente einer göttlichen Strafe. Sie treffen uns als Folge unseres Handelns. Sie sind die Konsequenzen unserer falschen Entscheidungen, unserer falschen Prioritäten und des Vorrangs, den wir unseren Bedürfnissen einräumen. Sie sind die Antwort der Schöpfung auf unsere Fehler, unsere Untätigkeit und unseren Starrsinn, an dem festzuhalten, was uns kurzfristig von Bedeutung ist.

Gott prüft uns nicht durch eine Flutkatastrophe. Er prüft uns mit der Frage, warum wir unser Verhalten nicht ändern, wenn doch offensichtlich ist, dass unser bisheriges Verhalten zu Tod und Zerstörung führt, nur weil es stark regnet.

Es ist nicht Gott, der die Natur missbraucht, plündert und zerstört. Das sind wir. Wir flüchten vor der Verantwortung für unser Tun, wenn wir die katastrophalen Folgen unseres eigenen Handelns als Ausdruck göttlichen Handelns oder Unterlassens deuten.

Nicht die Naturkatastrophe ist die Prüfung, sondern wie wir darauf reagieren und was wir zu ändern bereit sind, damit sie sich nicht wiederholt.