Ein Gastbeitrag von Muharrem Ünlü
Wenn man an eine Religion denkt, denkt man nicht selten an Dogmen; an nicht hinterfragbare Absolutismen. Ungeachtet dessen, dass der Begriff Dogma – nach meinem persönlichen Verständnis – negative und positive Aspekte beinhaltet, birgt auch unser Alltag viele davon. Alltägliche Denkgewohnheiten, die man durchaus auch als Alltagsdogmen bezeichnet könnte. Auch wenn beim Begriff Dogma eine historisch gewachsene religiöse Konnotation mitschwingt, haben nämlich unsere Denkansätze und Deutungsmuster in ganz weltlichen Angelegenheiten nicht selten eben solche dogmatischen Züge. Insbesondere wenn wir im Laufe unserer Entwicklung verlernt haben, die Grundsubstanz des persönlichen Wachstums am Leben zu erhalten: das ständige Hinterfragen eigener Meinungsbilder.
Einer der vielen interessanten Aspekte des islamischen Fastenmonats ist, dass man sich auf ihn vorbereitet, als würde man einen physischen Gast erwarten, obwohl es sich um einen Zeitabschnitt handelt. Solche unerwartet andersartigen Ansätze schaffen es meiner Meinung nach auf eine erfrischende Weise einen gesunden Kontrast zu eingeschlichenen Alltagsdogmen herzustellen – egal welcher Art – und bahnen ein neugieriges Hinterfragen vieler Denk- und Handlungsgewohnheiten in allen Bereichen des Lebens an. Denn nicht zuletzt geht es beim islamischen Fasten genau darum: in jedweder Hinsicht Alltagsgewohnheiten aufzubrechen, um sich in neuer Gestalt wiederzufinden; der Ursprung wiederkehrender geistiger Revolution und im Grunde das Gegenteil eines klassischen Dogmas.
Gerade in Zeiten, in denen vielerorts auf der Welt politische Färbungen bestimmender über den Lebensalltag und das Miteinander von Muslimen zu werden scheinen, kann man sich nur wünschen, dass das islamische Fasten mit all seinen Facetten auf allen Sphären des individuellen Daseins fruchtet und damit seine volle Kraft als Motor gesellschaftlichen Korrektivs entfaltet. Gerade in Zeiten, in denen die Muslime in Deutschland vor immer größer werdenden gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zu stehen scheinen, kann man sich nur wünschen, dass das islamische Fasten die bestmögliche unserer Wesensarten hervorbringt, so dass wir im Kontakt, Austausch und Miteinander mit unseren Brüdern und Schwestern in der Menschheit dadurch zu überzeugen wissen, wie es unser geliebter Prophet es uns mitgeteilt hat:
„Die Frömmigkeit ist die Schönheit der Wesensart. Das sündhafte Vergehen ist das, was in deiner Seele hängenbleibt und dir zuwider ist, dass die Leute davon erfahren.“ (Überliefert von Muslim; zitiert nach Imam An-Nawawi in „Das Buch der Vierzig Hadithe“)
Auch wenn wir ungern an unseren Alltagsdogmen herumdoktern möchten, weil sie uns Sicherheit in der Wahrnehmung unserer Umwelt bieten, werden wir genau dies tun müssen, um dem Ideal unseres Propheten auf eine uns mögliche Weise gerecht werden zu können. Ebenso, wie man einem Fingernagel durch das Feilen Substanz abträgt, um ihn schön zu machen, kann das islamische Fasten als eine Feile für die Seele angesehen werden. Zweckmäßig angewandt sollten wir demnach aus diesem Monat als ein besseres Ich hervorgehen. Doch sind zugleich die stärksten Dogmen, die Dogmen des Ichs.
By the way: der englische Begriff für das Frühstück – Breakfast – heißt im wörtlichsten Sinne nichts anderes als „Fastenbrechen“ und zeigt, dass das Fasten, auch abseits jeder spirituellen Orientierung, zum Grundzustand des Menschen gehört. Also, keep calm and fast.