Wir Muslime leiden manchmal unter einem Komplex, alles Mögliche unbedingt ‚islamisieren‘ zu müssen. Manchmal betrifft diese Haltung relativ banale Dinge, nicht selten aber auch Bereiche, die weitreichendere Folgen haben. Es ist aber insgesamt ein Anzeichen für eine Haltung, die wir als Muslime problematisieren müssen. Es ist eine Geisteshaltung, mit der wir besonders mit dem Beginn der Moderne konfrontiert sind. Es ist ein Symptom für unsere intellektuelle und geistige Schwäche, zu relevanten Fragen unserer Zeit eigene Positionen und Lösungsmöglichkeiten zu formulieren.
Zu Recht beschweren wir Muslime uns darüber, dass in Medienberichten das Terrorregime der Daesch unkritisch als ‚Islamischer Staat‘ bezeichnet, und somit das Vokabular jener Mörderbande einfach unhinterfragt übernommen wird. Aber auch schon vor dem Phänomen Daesch gab es diesen Begriff des ‚Islamischen Staates‘. Zwar waren es andere ideologische Strömungen, die diesen Begriff prägten, und damit etwas anderes meinten, aber auch dort hinterfragen wir selten die Nutzung dieses Begriffes, der das Konzept des Staates unhinterfragt übernimmt, um es dann mit dem Label Islam zu überstülpen. Wird das moderne Konzept des Staates ‚islamisch‘, in dem man es einfach islamisiert? Das ist die eigentliche Frage, mit der wir uns als Muslime zuerst beschäftigen müssen. Denn ansonsten wird uns nicht bewusst, was wir da eigentlich als ‚islamisch‘ präsentieren, das vielleicht mit dem Grundverständnis des Din wenig zu tun hat. Während der Konfrontation mit den Herausforderungen der Moderne sind Konstrukte in der islamischen Welt entstanden, die wir insgesamt Revue passieren lassen müssen, um aus fehlerhaften Entwicklungen der Vergangenheit auch Lehren für die zukünftigen Herausforderungen zu ziehen.
Auch in ganz banalen Angelegenheiten des Alltags wird man mit dieser Haltung konfrontiert. Manchmal muss man schmunzeln, wenn man eine Email oder einen Brief bekommt, wo man am Ende mit ‚islamischen Grüßen‘ gegrüßt wird. Was genau ist eigentlich ein ‚islamischer Gruß‘ bzw. was macht diesen Gruß islamisch? Es ist eine Banalität, aber auch Banalitäten sind oft ein Anzeichen für Haltungen, die viel tiefere Gründe haben. Der Din oder besser gesagt das Attribut „islamisch“ droht zu einer Floskel zu werden.
Wir werden immer öfter mit Begrifflichkeiten konfrontiert, deren Bedeutung wir nicht einfach ignorieren dürfen. Überhaupt sollte man gerade in Fragen des Din Begrifflichkeiten verwenden, deren Bedeutung einem auch bewusst ist. Denn mit den Begriffen übernehmen wir bewusst oder unbewusst auch deren Bedeutung. Beispiele für diese Begriffskonstruktionen, die zur Modeerscheinungen geworden sind, sind z.B. die ‚islamische Bank‘ oder die ‚islamische Partei‘. Beides säkulare Konzepte, die durch eine oberflächliche ‚Islamisierung‘ bewusst oder unbewusst zu etwas Heiligem transformiert werden. Nur an der Funktionsweise und der Struktur dieser Konstrukte ändert sich nichts dadurch. Viel mehr haben wir es oft mit einem – salopp formuliert – Etikettenschwindel zu tun. Dadurch werden Konstrukte zu einem Bestandteil des Dins gemacht und sakralisiert. Dieses recht moderne Phänomen ist Ausdruck eines Mangels. Eines Mangels an Auseinandersetzung der islamischen Lehre mit den Grundfragen unserer Zeit und der Formulierung eines eigenen Ansatzes. Das sollte unser Anspruch als Muslime sein: Nur wenn man zu Fragen unserer Zeit auch einen eigenen Ansatz formulieren kann, kann man bei gesellschaftliche Fragen auch einen eigenen Beitrag leisten und zur Diskussion stellen. (eg)