Es gibt Bereiche unseres religiösen Lebens, in denen wir die wechselseitige Beeinflussung von Tradition und Religion deutlicher spüren als sonst. Unterschiedliche historische, kulturelle und gesellschaftliche Prägungen wirken derart auf unser Glaubensverständnis und vielleicht noch deutlicher auf unsere Glaubenspraxis, dass es nach den vielen Jahrhunderten seit der Offenbarung des Koran schwieriger wird zu unterscheiden, was in unserem religiösen Alltag seinen Ursprung in Koran oder Sunna hat und was auf die Wirkmacht traditioneller Verhaltensmuster zurückzuführen ist.
Es gibt einen Bereich unseres religiösen Alltages, der vielleicht so nachhaltig von traditionellen Vorstellungen geprägt und verändert worden ist, wie kein zweiter. Je kritischer wir uns mit diesem Bereich beschäftigen, umso deutlicher erkennen wir, wie sehr der Drang des Menschen, althergebrachten Vorstellungen zu folgen und traditionelle Anschauungen lebendig zu halten, selbst vor der Offenbarung Allahs und dem Vorbild des Propheten (s.a.s.) nicht Halt macht. Im Gegenteil erleben wir vielmehr, wie wir Menschen dazu bereit sind, das Vorbild des Propheten (s.a.s.) zu ignorieren und zu verdrängen, um unseren Gewohnheiten und überlieferten Vorstellungen gesellschaftlichen Lebens weiter folgen zu können, ohne sie hinterfragen und auf den Prüfstand stellen zu müssen.
Es geht darum, wie wir die Frauen in unserer Gemeinschaft behandeln und welches Verständnis gesellschaftlichen Miteinanders wir pflegen. Aus der Offenbarungsgeschichte ist bekannt, dass die muslimischen Gebote und Verbote eine immense Aufwertung der gesellschaftlichen Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaftsordnung bedeuteten. Gern wird erzählt, dass es in vorislamischer Zeit in Mekka üblich war, neugeborene Mädchen lebendig zu verscharren, weil sie in der damaligen Gesellschaftsordnung keinen Wert hatten und wie der Koran diesen Brauch verurteilt und abgeschafft hat.
Weitaus seltener fragen wir uns heute, ob nicht unsere gegenwärtigen Gewohnheiten und Gesellschaftsvorstellungen die Mädchen und Frauen unserer Gemeinschaft unter Massen von Benachteiligung, Geringschätzung, Herabsetzung und Bevormundung begraben? Wenn wir doch davon überzeugt sind, dass die koranische Botschaft sowie die Sunna des Propheten (s.a.s.) Warnung und Rechtleitung für alle Zeiten und alle Orte enthalten, warum stellen wir uns dann nicht auch heute die Frage, ob wir der Absicht der Offenbarung, die gesellschaftlichen Verhältnisse für Frauen zu verbessern, tatsächlich gerecht werden?
Und dabei müssen wir gar nicht auf die gesamtgesellschaftlichen Missstände hinweisen, also über Zustände diskutieren, an denen wir als Einzelne vermeintlich nichts verändern können, weil sie das “Große und Ganze” betreffen.
Fangen wir doch viel konkreter und im scheinbar Kleinen unseres gemeindlichen Alltages an: Warum spielen Frauen oftmals keine Rolle bei der Leitung unserer Moscheegemeinden? Warum ist Frauen in unseren Gemeinden oftmals nur die Rolle der Köchin und Bäckerin zugedacht, die Speisen und Tee zubereiten, wenn Moscheebesucher zu Gast sind? Warum schätzen wir oftmals nur die Handfertigkeit unserer weiblichen Moscheemitglieder, aber viel zu selten auch ihre Gedanken, Ideen und Meinungen zur Zukunft unserer Gemeinden? Ja, es gibt zunehmend auch Frauenverbände in unseren Gemeinden. Aber warum sind wir noch weit weg von einer unverkrampften, ganz selbstverständlichen Zusammenarbeit zwischen den männlichen und weiblichen Gemeindemitgliedern, die doch eine Gemeinschaft bilden?
Warum schließen wir Frauen auch räumlich aus dem Zentrum unserer Moscheebauten aus? Warum weisen wir ihnen nur dunkle Hinterzimmer, modrige Nebenräume oder abgehängte Nischen für das Gebet zu? Warum versagen wir den Frauen unserer Gemeinden viel zu oft die Möglichkeit, sich im Hauptsaal, unter den Kuppeln unserer Moscheen, in der unmittelbaren Nähe der Gebetsnische zur stillen Einkehr und zur Ergebenheit im Gebet zu versammeln? Warum verdrängen wir Frauen freitags aus der Moschee und lassen sie nicht am wichtigsten Gebet der Woche teilnehmen?
Der Prophet (s.a.s.) kannte keinen “Frauenbereich”. Die Muslime der Urgemeinde stellten sich hinter dem Propheten zum Gebet auf. Als eine geschlossene, eine einheitliche Gemeinde. In den ersten Reihen die erwachsenen Männer, dahinter die männlichen Jugendlichen und Kinder, danach die erwachsenen Frauen und dahinter die weiblichen Jugendlichen und Kinder. So konnten die Jüngeren von den Älteren in praktischer Anschauung das Gebet erlernen. Warum würde dieses prophetische Vorbild heute in den meisten Gemeinden Widerspruch ernten?
Heute haben wir die Moscheen und nahezu alle sozialen Einrichtungen darin ganz selbstverständlich, nämlich im männlichen Selbstverständnis, zu Männervereinen gemacht. Frauen bekommen darin nur Randbereiche, Nebenräume zugewiesen. Oftmals sind diese für die Anzahl der Frauen viel zu klein, schlecht gepflegt, vernachlässigt und ohne den gleichen Anspruch von Schönheit und Sorgfältigkeit hergerichtet wie der eigentliche Gebetssaal. Denn unsere traditionellen Vorstellungen von gesellschaftlicher Vormachtstellung des Mannes haben aus der Erleichterung für Frauen, Gemeinschaftsgebete nicht in der Moschee verrichten zu müssen, faktisch ein Zutrittsverbot oder zumindest eine ästhetische und emotionale Erschwernis werden lassen.
Der aktuelle Zustand, dass Frauen in den meisten Fällen aus dem Hauptsaal der Moschee praktisch verbannt werden, ist keiner religionspraktischen Pietät oder schamhaftem Taktgefühl geschuldet. Denn sonst könnten sich die Männer ja auch in die Nebenräume zurückziehen und den Frauen den Hauptsaal überlassen. Nein, der aktuelle Zustand versinnbildlicht den männlichen Anspruch nach einem Rangverhältnis, das aus dem von Männern dominierten Alltag in die Moschee hineingetragen wird und vor Allah ein räumliches Rangverhältnis konstruiert, das so vor der Offenbarung keinen Bestand haben kann. Denn wie es in Sure al-Ahzab, Vers 33 heißt: “Wahrlich, den muslimischen Männern und muslimischen Frauen, den gläubigen Männern und gläubigen Frauen, den frommen Männern und frommen Frauen… den fastenden Männern und fasten Frauen… den Männern und Frauen, die Allahs oft gedenken: all denen hält Allah Vergebung und reichen Lohn bereit.”
Wir Männer reklamieren die Ästhetik, die Schönheit, die architektonische Wirkung eines Moscheeraumes als exklusiven männlichen Besitz und schließen Frauen vorsätzlich von der Wirkung eines solchen Raumes aus. Wir zitieren gern, dass das Paradies unter den Füßen der Mütter liegt. Aber selbst in der Moschee verweisen wir dieses Paradies in unansehnliche Hinterzimmer.
Auch diese Frage müssen wir uns dabei stellen: Wie können wir die Diskriminierung von sichtbar muslimischen Frauen im gesellschaftlichen Alltag glaubhaft beklagen und wirksam bekämpfen, wenn wir die gleichen Frauen in unseren Moscheen selbst im Augenblick des Gebets benachteiligen?
Würden heute Frauen den Anspruch erheben, in der Tradition des Propheten (s.a.s.), also seinem Beispiel folgend, das Gemeinschaftsgebet nicht in einem Nebenraum, sondern im Hauptsaal der Moschee in den hinteren Reihen der Gemeinde verrichten zu wollen, würden sie in den allermeisten Fällen tiefe Entrüstung und lauten Protest erleben.
Wie widersprüchlich wir uns dabei verhalten, fällt uns nicht einmal mehr in unserem umgangssprachlichen Ausdruck auf. Wir beschreiben unsere Moscheen als “Zweigstellen der Kaaba”. Aber in Mekka umrunden Frauen und Männer gemeinsam die Kaaba. Seite an Seite schreiten sie nebeneinanderher siebenmal um die Kaaba. Anschließend verrichten sie am gleichen Ort, mit dem gleichen Blick auf die Kaaba ihre Gebete – dabei stehen alle Menschen durcheinander. Nicht nur, weil während der kurzen Zeit des Gebetsrufs an der Kaaba keine vorderen und hinteren Reihen gebildet werden können. Sondern, weil im Angesicht Allahs Mann und Frau gleich sind. So heißt es in Sure an-Nisa, Vers 1: „Ihr Menschen! Fürchtet euren Herren, der euch aus einem Wesen und daraus sein Gegenüber schuf.“
Warum soll, was am heiligsten Ort des Islam möglich und gut ist, nicht in unseren Heimatmoscheen möglich sein? Warum unternehmen wir stattdessen höchste Anstrengungen, das Vorbild des Propheten (s.a.s.) zu verdrängen? (mk)