Die öffentliche Diskussion über den Islam in unserem Land ist von einer Sprache geprägt, die hinterfragt werden muss: Häufig ist die Rede von „konservativen“ und „liberalen“ Muslimen. Aber die Formulierung „konservativer Muslim“ ist – wenn man die Offenbarung des Koran ernst nimmt – ein Oxymoron, also eine in sich gegensätzliche Beschreibung. Traditionen, althergebrachte Regeln und überlieferte Ansichten sind beim Blick in den Koran mit großer Vorsicht, ja geradezu mit fundamentaler Skepsis zu behandeln.
In verschiedenen Versen wird auf diesen Aspekt hingewiesen. So heißt es in Sure 2, Vers 170 und Sure 5, Vers 104 und leicht abgewandelt in Sure 31, Vers 21 über jene, die von der Rechtleitung der Offenbarung abkommen: „Und wenn ihnen gesagt wird: ‚Folgt dem, was Gott herabgesandt hat‘, sagen sie: ‚Wir folgen lieber dem, was wir bei unseren Vätern vorgefunden haben.‘ Was denn, auch wenn ihre Väter nichts verstanden haben und der Rechtleitung nicht gefolgt sind?“.
Im Koran weist Gott darauf hin, dass dieser Rückgriff auf Traditionen und etablierte Formen des Glaubens stets ein Hindernis auf dem Weg der Propheten war (Sure 43, Verse 23): „So haben Wir auch vor dir in keine Stadt einen Warner gesandt, ohne dass die, die in ihr üppig lebten, gesagt hätten: ‘Wir haben bei unseren Vätern eine bestimmte Glaubensrichtung vorgefunden, und wir treten in ihre Fußstapfen.‘“
Noch deutlicher heißt es in Sure 7, Vers 28: „Und wenn sie etwas Schändliches tun, sagen sie: ‚Wir haben es bei unseren Vätern vorgefunden, und Gott hat es uns geboten.‘ Sprich: Gott gebietet nicht das Schändliche. Wollt ihr denn über Gott sagen, was ihr nicht wisst?“
Der Hinweis in diesen offenbarten Versen auf das individuelle „Verständnis“ und das konkrete „Wissen“ ist von grundsätzlicher Bedeutung. Denn Gott setzt damit das Wissen vor die Nachahmung eines unhinterfragten Glaubens. Die göttliche Offenbarung, so wie sie uns im Koran zugänglich ist, unterstreicht diesen Aspekt des Wissens und der verständigen Prüfung des Glaubens in Sure 3, Vers 18: „Gott bezeugt, dass es keinen Gott gibt außer Ihm, ebenso die Engel und diejenigen, die das Wissen besitzen. Er steht für die Gerechtigkeit ein. Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Mächtigen, dem Weisen.“
Das Zeugnis über die Einzigkeit Gottes, also über die Kernaussage des islamischen Glaubensbekenntnisses, legen in diesem Vers Gott selbst, die Engel und die Wissenden ab. Dies ist der Stand und die Bedeutung, die Gott dem Wissen einräumt. Die arabische Formulierung dieses Zeugnisses lautet in etwa „vel melaiketu ve ulul ilmi kaimen bil kıstı“. Das heißt so viel wie „die Engel und die Wissenden bestätigen/bezeugen in gerechter Weise/durch Gerechtigkeit“ die Einzigkeit Gottes.
Die in diesen wenigen Formulierungen enthaltenen Bedeutungsebenen sind in ihrer Vielfalt und aktuellen Relevanz kaum zu überschätzen: Die Handlungen Gottes sind selbst durch Gerechtigkeit geprägt. Dies zu bezeugen, danach handeln und leben zu können, gelingt dem Menschen dadurch, dass er sich den Glauben durch seinen Verstand und immer wieder neu erworbenes Wissen erschließt.
Das Hineintreten in Fußstapfen reicht dafür nicht aus. Ein solches Nachahmen kann immer nur ein erster Schritt des Gläubigen sein, der sich der äußeren Form seines Glaubens nähert. Als Konsequenz seiner Ergebenheit in Gott muss er aber dem Gebot des „Lies!“, also der verständigen Entschlüsselung der göttlichen Botschaft, die gleichzeitig alles ist, was ihn als Schöpfung Gottes umgibt, folgen.
Denn damit folgt er nicht dem Zeugnis seiner Vorfahren, die auch dem Irrtum erlegen sein können, die von der Rechtleitung abgekommen sein können, die in Ungerechtigkeit verstrickt sein können. Er folgt, wie im obigen Vers dargelegt, vielmehr dem Zeugnis Gottes selbst und dem seiner Engel. Nur so kann er Gott in gerechter Weise bezeugen und damit die Gerechtigkeit zum Maßstab seines gottgefälligen Lebens und Handelns machen.
Traditionen, Brauchtum und etablierte Ansichten sind nicht bedeutungslos oder ohne Wert. Ihr Wert liegt aber nicht darin, nachgeahmt oder als Ziel der Glaubensausübung angestrebt zu werden. Sie sind vielmehr wichtige Methoden und Mittel der Suche nach Erkenntnis. Sie dürfen aber niemals die Erkenntnis selbst, das Wissen selbst ersetzen. Denn dann schließen sie die göttliche Offenbarung in den Stand traditionellen Wissens ein. Und der Stand unseres Wissens ist immer auch der Stand unserer letzten Irrtümer.
Die Offenbarung Gottes fordert von uns vielmehr die stetige Suche nach Wissen als Ausdruck des wahren Zeugnisses göttlicher Einzigkeit.
Denn das Wort Gottes, dem wir im Koran begegnen, ist wie ein Ozean. Selbst wenn wir an der gleichen Stelle darin eintauchen, an der unsere Vorfahren in die Wellen gestiegen sind, werden es niemals die gleichen Tropfen sein, die unsere Haut benetzen. Jedes Eintauchen in die Offenbarung des Koran, wird unseren Verstand und unsere Herzen in immer neuer Weise berühren. Und nur wenn wir bereit sind, uns immer wieder auf die Suche nach neuem Wissen zu begeben, um mit neu erworbenem Wissen immer wieder neu in Gottes Wort, in den Koran, einzutauchen, kann es uns gelingen, auf die Herausforderungen unserer eigenen Zeit gerechte und damit gottgefällige Antworten zu finden.
In diesem Sinne dürfen, ja können Muslime niemals „konservativ“ sein. Ob sie „liberal“ sein können, darüber soll in einem anderen Freitagswort nachgedacht werden. (mk)