Die ersten von Gott herabgesandten Verse sind ein wundersames Beispiel für die sprachliche Komplexität und die poetische Schönheit des Koran. Diese Verse dokumentieren, welche unterschiedlichen Bedeutungsebenen und Auslegungsmöglichkeiten selbst in kürzesten Versen oder gar nur in einzelnen Worten des Koran enthalten sind. All dies ist eine nimmer endende Herausforderung an uns Menschen, uns die göttliche Offenbarung auch immer wieder aufs Neue anzueignen.
In diesen ersten Versen der 96. Sure, welche den Titel „Al Alaq“ trägt, heißt es: „Lies im Namen deines Herrn, Der erschuf! Er erschuf den Menschen aus einem Blutklumpen.“ Welch immenser Schatz in diesen zwei scheinbar schlichten Sätzen verborgen ist, mag uns im ersten Moment entgehen.
Aber machen wir uns die Mühe, diesen Schatz zu bergen: Im arabischen Originaltext der Offenbarung wird das Verb „erschaffen“ mit dem Begriff „halaka“ beschrieben. Und auf die Frage, woraus Gott den Menschen erschaffen hat, gibt die Offenbarung uns im Original die Antwort mit der Formulierung „min alakin“. „min alakin“ beschreibt etwas, das an einem Punkt mit etwas anderem verbunden ist, nahezu an etwas aufgehängt schwebt. Gleichzeitig wird in dieser Formulierung die Beschreibung eines Blutklumpens, eines blutigen Haufens erblickt. Mit fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis ist dies häufig als Beschreibung eines Embryos gedeutet worden, der über die Nabelschnur und die Plazenta mit der Mutter verbunden ist.
Auffällig ist, dass die Formulierung für den Akt des Erschaffens (halaka) und für die Substanz, aus der der Mensch erschaffen wird (alakin), auf den gleichen Wortstamm „alak“ zurückgreift. Aus dem Wortstamm „alak“ leitet sich auch die Formulierung „alaka“ ab, die zum Beispiel in der türkischen Sprache verwendet wird und so viel bedeutet wie Aufmerksamkeit, Zuwendung, sich um etwas kümmern, jemandem oder einer Sache zugeneigt sein. Oder in der arabischen Sprache „qalaq“, im Sinne von Sich-Kümmern, Umsorgen.
Es ist geradezu faszinierend, wie über die materielle Bedeutung des Wortes „alak“ hinaus, also über die anatomische Verbundenheit des ungeborenen Kindes mit seiner Mutter hinaus, gleichzeitig der Moment der Erschaffung des Menschen durch Gott als eine umsorgende, sich kümmernde, liebevoll einander zugeneigte Verbundenheit Gottes mit dem Menschen beschrieben wird. Gott erschafft den Menschen in einem Akt der Zuneigung und gleichzeitig aus Zuneigung heraus. Es ist dieses liebevolle, behütende, umsorgende Verhältnis Gottes zum Menschen, das der menschlichen Natur als Grundsubstanz ihrer selbst mitgegeben ist.
Und mehr noch: Das erste Wort dieser ersten Offenbarungsverse lautet „Lies!“. Die Formulierung im arabischen Originaltext der Offenbarung lautet „iqra“, wobei dieser Imperativ ebenfalls mehrere Bedeutungsebenen aufweist. Er bedeutet auch „Verkünde!“, „Trage vor!“. Damit sind alle denkbaren Formen des „Lesens“ und auch des „Vorlesens“ umfasst. Und „lesen“ ist eben viel mehr, als nur zu „sehen“. Über die Sinnesleistung des „Sehens“ hinaus setzt das „Lesen“ eine intellektuelle Leistung, die Entschlüsselung des Gelesenen, ein erkennendes Verständnis, das über die Gestalt des Betrachteten hinausreicht, voraus.
Vergegenwärtigen wir uns, dass Gott in seiner Offenbarung die gesamte Schöpfung als eine Art Buch beschreibt. Dann wird die universelle und faszinierende Tiefe dieser ersten Offenbarungsverse deutlich: Nur wenn wir alles was uns umgibt, die gesamte Schöpfung Gottes, nicht nur betrachten, sondern mit dem Streben nach Erkenntnis, nach Verständnis „lesen“ und einander „vorlesen“ und „verkünden“, können wir zu der Einsicht gelangen, dass alle Menschen in enger Verbundenheit mit und in fürsorglicher Zuneigung durch Gott erschaffen wurden.
Und es ist unsere Verantwortung als Mensch, diese schöpfungsbedingte Eigenschaft in jedem Menschen zu erkennen und über all die Meinungsverschiedenheiten, Zwistigkeiten und Unterschiede hinweg niemals zu vergessen, dass gerade diese Verbundenheit mit Gott uns letztlich auch zwischenmenschlich aneinander bindet. (mk)