Ambivalenz gehört zu jeder Religion. Zerrissenheit gehört dazu, wenn das Göttliche auf das Endliche, dass Transzendente auf unser irdisches Leben treffen. Ambivalent ist zumeist auch das Verhältnis der Entstehung zur darauffolgenden Tradierung einer Religion. Während die neue Botschaft Vorhandenes umstößt, verwirft, die Perspektive revolutioniert, fällt den nachfolgenden Generationen die Aufgabe zu, diese Botschaft aufrechtzuerhalten und weiterzugeben.
Diese Ambivalenz, diese Zerrissenheit zwischen Aufbruch und Tradition ist die Herausforderung, die sich jeder Generation auf ein Neues stellt. Jeder Generation fällt einerseits die Aufgabe zu, die Botschaft in all ihrer Authentizität zu empfangen, sie unverfälscht in das eigene Leben aufzunehmen, sie an die nächste Generation weiterzugeben. Andererseits erhält sie jedoch jedes Mal, als wäre es wieder das erste Mal, die Aufforderung zu hinterfragen und damit eigene Verantwortung zu übernehmen.
Worauf wir nicht hoffen können, ist die Errettung durch unsere Vorgänger. Sie haben durch ihr Bestehen uns nicht die Verantwortung abgenommen, diese Ambivalenz zwischen Tradition und Aufbruch für uns selbst zu lösen: „Jenes Volk ist nun Vergangenheit. Ihm wurde nach ihrem Verdienst vergolten, und so wird euch nach eurem Verdienst vergolten; und ihr seid nicht für sie verantwortlich.“ (2:141)
Uns Muslimen begegnet diese Ambivalenz jedes Mal, wenn wir das Glaubensbekenntnis aussprechen. Das muslimische Glaubensbekenntnis beginnt mit einer Verneinung: “La ilaha illa ‘llah“. Es gibt keinen Gott außer Allah. Mit diesem “La”, dem arabischen “Nein” sind nicht nur die Götzen der mekkanischen Polytheisten gemeint. Es richtete sich auch gegen ihre Weltanschauung, ihre Art die Welt zu verstehen und ihre daraus folgenden Art, mit dem Menschen umzugehen.
Wenn der Prophet Ihnen mit dem Koran, mit dem Islam, mit einer anderen Perspektive auf ihr eigenes Leben und auf ihre Umwelt entgegentrat, suchten sie die Zuflucht in einem starren Verständnis von Tradition:
“Wenn man zu Ihnen sagt: „Folgt dem, was Gott herabgesandt hat!“ Dann sagen Sie: „Nein, wir folgen dem, was wir bei unseren Vätern fanden!“ Doch wenn es nun so wäre, dass ihre Väter nichts begriffen und sich nicht recht leiten ließen?” (2:170)
Für sie lag Legitimation nur im Überlieferten. Auf diese konnten sie sich beziehen, ohne selbst reflektieren zu müssen, ohne selbst Verantwortung für ihr Denken und ihr Handeln übernehmen zu müssen. Denn sie hatten ja ihre Väter, auf die sie alle Verantwortung abschieben konnten. Und diese hatten wiederum ihre eigenen Väter. All das war ihnen genug. Was es gestern nicht schon bei ihren Vätern gegeben hat, konnte es auch heute nicht geben. Sie konnten die Veränderung nicht sehen, weil sie sie nicht sehen wollten.
Es hat schon etwas Tragikomisches, dass heute innerhalb der muslimischen Community eine Art von Konservatismus zum Mainstream geworden ist. Es kann nur das gelten, was schon einmal in den Büchern stand – so behaupten es zumindest manch glühenden Verfechter eines religiösen Stillstandes. Es könne keine neuen Fragen geben, die alten Fragen hätten einfach zu genügen, denn wir kennen nur die Antworten auf diese, aber nicht auf die Neuen. Nur das was wir bei unseren Vätern finden, nur das soll auch für uns gelten. Wir sollen uns nur mit den Antworten möglichst verstorbener Gelehrter begnügen, auch wenn sie unser, in ihrer Zukunft liegendes, Heute nicht begreifen konnten.
“Und als zu ihnen gesprochen wurde: »Kommt her zu dem, was Allah hinabgesandt hat, und zum Gesandten!«, antworteten sie: »Uns genügt das, was wir bei unseren Vätern vorfanden.« Aber ist es nicht so, dass ihre Väter nichts wussten und nicht rechtgeleitet waren?” (5:104)
Es geht nicht darum die Tradition abzuwerten oder die Erfahrung der Altvorderen zu entwerten. Vielmehr geht es darum, unsere eigene Verantwortung, den Islam in das Hier und Heute zu bringen, nicht zu Unrecht auf sie abzuwälzen. Wir sind es, die sich den Fragen an den Islam stellen müssen, egal ob sie von uns Muslimen kommen oder von einer nichtmuslimischen Umwelt. All die vergangenen Gelehrten der islamischen Tradition, sie sind ein Volk der Vergangenheit. Ihre Verdienste wurden Ihnen schon vergolten, wir können uns nicht auf ihnen ausruhen. Uns obliegt es, einerseits ihr Verständnis als eine Form der Tradition anzuerkennen, ihr Erbe zu Ehren, gleichzeitig aber auch uns um unsere eigenen Verdienste zu kümmern. Denn nur diese werden uns vergolten.
Ambivalenz gehört zum Islam, weil sie mit uns Menschen zu tun hat. An uns Menschen wurde der Islam herabgesandt, Allah braucht ihn nicht. Der Islam ist eine Religion, die im Hier und Jetzt gelebt wird, nicht in einer musealen Erinnerung. Generation um Generation, Gemeinschaft und Gemeinschaft, Individuum um Individuum müssen sich der Herausforderung stellen, einen traditionell empfangenen Islam in ihrem aktuellen und zukünftigen Leben zu implementieren, ohne ihn zu ihrer „Religion der Väter“ zu verunstalten.