Opferneid

Immer häufiger stoße ich in meiner Bubble auf eine bestimmte Karikatur mit Flüchtlingen: Zwei Frauen stehen jeweils vor einem Weg nach Europa. Eine Frau mit Kopftuch und einem dunkelhaarigen Kind und eine blonde Frau mit einem blonden Kind. Die Frau mit Kopftuch soll an die Flucht syrischer Flüchtlinge erinnern. Sie steht vor einem sandigen Weg, der von einem Schlagbaum und viel Stacheldraht versperrt wird. Die Frau ohne Kopftuch soll ukrainische Flüchtlinge repräsentieren, die über einen roten Teppich nach Europa marschieren dürfen. Die Karikatur kritisiert die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen unterschiedlicher Herkunft. Eine Kritik, die teilweise ihre Berechtigung hat und sicherlich einer Aufarbeitung bedarf. Aber, muss diese Diskussion gerade jetzt geführt werden?

Bei Einigen hat dieser Diskurs eine dermaßen zentrale Bedeutung eingenommen, dass sie Berichten über die Situation ukrainischer Flüchtlinge jedes Mal mit einem bestimmten Wiederspruch begegnen: Aber der Umgang mit den syrischen oder muslimischen Flüchtlingen war anders, es gibt doppelte Standards usw. Eine beschämende Art des Opferneids, der von einer fast schon narzisstischen Ich-Bezogenheit geprägt ist.

Ja, nicht alles lief in und nach 2015 optimal. Der Umgang vieler Staaten auf dem Weg der Flüchtlinge nach Europa war leider geprägt von Schlagbäumen, Stacheldraht und einem entwürdigenden Umgang mit diesen Menschen. Dies sind jedoch nicht die einzigen Bilder, die sich mir eingeprägt haben. Es sind eher die Menschentrauben an den Bahnhöfen, die mit Blumen in den Händen genau die Menschen empfangen haben, die ihnen von so manchen Medien und Politikern jahrzehntelang als kulturelle Gegner präsentiert wurden. Trotzdem standen viele Menschen an den Bahnsteigen, nahmen diese Menschen in ihre eigenen Wohnungen und Häusern auf. “Wir schaffen das” war zu diesem Zeitpunkt eine dermaßen mächtige Formel der Bereitschaft zu Barmherzigkeit und Nächstenliebe, dass der Widerspruch dazu zu einem Kampfbegriff der Menschenhasser in Deutschland geworden ist.

Ja, es gab genug Akteure, die den Flüchtlingen keine Scheibe Brot im Magen und keinen Quadratzentimer Dach über dem Kopf gegönnt haben. Sie haben stattdessen andere Opfer dieser Gesellschaft bemüht: Obdachlose, alleinstehende Mütter, eine zurückgelassene “weiße Arbeitschaft”. Menschen, um die diese plötzlichen “Wir haben unsere eigenen Notleidenden”-Erkenner sonst einen großen Bogen machen, die nur allzu gerne im innergesellschaftlichen Diskurs bereit sind, Menschen nach ihrem marktwirtschaftlichen “Wert” abzustufen.

Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass auch für die ukrainischen Flüchtlinge das Dasein als Geflohene im fremden Land kein Rotteppich-Äquivalent sein wird. Jede Zugfahrt von Berlin weg gibt bereits einen kleinen Einblick in die Situation der Betroffenen. Die Zahl der Menschen aus der Ukraine in den Zügen steigt von Tag zu Tag. Sie sind müde, sie sind erschöpft. Ungewissheit über die eigene Zukunft, Sorge um die Hinterbliebenen steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Kleine Kinder spielen im Flur und auf den Sitzen. Ihre ahnungslose Unbeschwertheit scheint den Schmerz und die Trauer der Erwachsenen noch weiter zu vertiefen. Welchen roten Teppich versuchen die “aber die anderen Flüchtlinge”-Sager da krampfhaft zu sehen?

Die Diskussion um Ungleichbehandlung und Diskriminierung von muslimischen oder syrischen Flüchtlingen ist berechtigt, nur war und ist dieses Verhältnis nicht nur durch Negativität geprägt. Die Diskussion verliert ihre Berechtigung, wenn sie im Angesicht von Notleidenden geführt wird. Was soll die Folge im hier und jetzt dieses Diskurses sein? Sollen die Verfehlungen und Mängel in der Betreuung und im Umgang mit syrischen Flüchtlingen nun auf den Schultern der neu ankommenden Flüchtlinge ausgetragen werden? Wie aufrichtig kann ein Ungleichheitsdiskurs sein, wenn er die Bedürftigkeit nicht an objektiven Kriterien der Not, sondern an der Nähe zur eigenen Wir-Gruppe feststellt? Geht es dabei noch um muslimische und syrische Flüchtlinge oder doch mehr um eine ideologische Aufrechnung und der Kanalisierung eines aufgestauten Zorns?

Mich schmerzt es besonders, wenn ich solch eine Debatte innerhalb der muslimischen Community sehe. Die angeführten Argumente greifen Aspekte wie eigene erlebte Ungleichbehandlung auf, postkoloniale Argumente, Auseinandersetzung zwischen Minderheits- und Mehrheitspositionen. Es fehlt jedoch der Blick auf die prophetische Tradition. Diese zeigt nämlich eine völlig andere Perspektive auf. Sie gibt uns ein Beispiel von Barmherzigkeit und Menschenliebe selbst in der extremen Situation eines bestehenden Kriegszustands.

Es war eine angespannte Zeit. Oft genug standen sich Mekka und Medina auf dem Schlachtfeld gegenüber. Zuletzt in der Grabenschlacht vor Medina hatte Mekka wieder angegriffen. Aber jetzt hungerte Mekka. Eine Hungersnot hatte ihre Bewohner in ihrem erbarmungslosen Griff. Am heftigsten spürten dies die Ärmsten, die Schwächsten. Aber es kam Hilfe in der Not. Medina hatte Nahrungsmittel aus dem verbündeten Jemen nach Mekka senden lassen, auf Anordnung des Propheten (a.s.). Die Hilfe kam von dem Menschen, den die Mekkaner am meisten anfeindeten, sie kam von dem für sie verhassten Propheten des Islams. Der Prophet hatte seine helfende Hand zu einer Zeit ausgestreckt, zu der das Helfen jedem anderen wohl unmöglich gewesen wäre. Er half Menschen, die ihm oft nach dem Leben getrachtet hatten. Doch für den Propheten waren sie in dem Moment keine Feinde, sondern Notleidende, von Hunger und Entbehrung gemarterte Menschen.

Der Prophet wusste genau, Feindschaft kann es nicht gegen hungernde Menschen geben. Hungernde und Notleidende brauchen Hilfe. Notleidende bewertete er nicht an Kriterien wie Freund oder Feind. Das Menschsein stand im Zentrum. Wenn dieses Kriterium für den Propheten ein ausreichendes war, können wir an Hilfsbedürftige andere, zusätzliche Bedingungen stellen? Können wir uns aufgrund zweit- und drittrangiger Vorbehalte unserer Verantwortung und Verpflichtung zur Hilfe entledigen? Unsere Situation ist nicht mal annähernd mit der Gefahr vergleichbar, der der Prophet ausgesetzt war. Wir haben es nicht mit Feinden zu tun, nicht mit Menschen, die uns etwas Böses tun wollen. Und dennoch beginnen unsere Aussagen zur Hilfe zu oft mit einem “Aber”. Wir können nicht vor dieser Verantwortung fliehen, die wir mit ihm teilen.