Woran glauben wir? Und wozu glauben wir? Es ist von unschätzbarem Wert, sich diese Fragen immer und immer wieder zu stellen und nie anzunehmen, wir hätten sie endgültig beantwortet. Bei unserer Suche nach Antworten auf diese Fragen müssen wir uns bewusst machen, dass es einen Unterschied zwischen uns und dem Bezug unseres Glaubens gibt. Gott ist vollkommen – wir sind es nicht. Im Koran gibt es keinen Widerspruch oder Zweifel – aber wir sind voller Widersprüche und Zweifel. Gott ist die Wahrheit – aber ebenso, wie wir Gott nicht unmittelbar erfassen können, könne wir nicht beanspruchen, eine absolute Wahrheit erkannt und verstanden zu haben.
„Dies, weil Gott die Wahrheit ist“, heißt es im Koran (22, 62). Wenn also Gott die Wahrheit ist, kann die Wahrheit unseres irdischen Glaubens für uns nur so unbegreiflich wie er selbst sein. Was unsere Wahrheit des Glaubens ist, entzieht sich damit unserem Verständnis, wie auch Gott für uns rational letztlich unfassbar bleibt.
Für uns Muslime muss deshalb die Bescheidenheit im Glauben eine Grundtugend sein. Wir wissen nicht, nur Gott weiß. Wir dürfen niemals davon überzeugt sein, eine absolute Wahrheit erkannt und verstanden zu haben. Wir dürfen deshalb niemals unsere Überzeugungen anderen Menschen als vollkommene Wahrheit aufzwingen. Wo wir in der Gewissheit einer vollkommen durchdrungenen Wahrheit handeln, betreten wir einen Irrweg, der uns und andere ins Verderben führt.
Der Koran selbst betont diese Freiheit des Individuums: „Und sprich: Die Wahrheit ist von eurem Herrn. Wer will, der soll glauben; und wer will, der soll leugnen.“ (18, 29)
Wer anderen seine religiöse Wahrheit mit Mitteln des Zwangs aufdrängt, verletzt diese fundamentale Freiheit des Menschen. Diesen Bezug zum anderen, unser konkretes Verhältnis zu anderen Menschen müssen wir in Fragen des Glaubens unbedingt achten.
Dieses Verhältnis des Menschen zum Begriff der Wahrheit eint uns über konfessionelle Grenzen hinweg: „Die Wahrheit wird euch freimachen (Johannes 8, 32). Nicht unsere Tat, unser Mut, unsere Kraft, unser Volk, unsere Wahrheit, sondern Gottes Wahrheit allein. (…) Gottes Wahrheit allein aber läßt mich den Anderen sehen. Sie richtet meinen in mich verbogenen Blick über sich hinaus und zeigt ihm den anderen Menschen. Und indem sie das tut, tut sie an mir die Tat der Liebe, der Gnade Gottes. Sie vernichtet unsere Lüge und schafft die Wahrheit. Sie vernichtet den Haß und schafft die Liebe. Gottes Wahrheit ist Gottes Liebe und Gottes Liebe macht uns frei von uns selbst für den andern.“ (…) „Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst. Wo es sich vom Leben und von der Beziehung zum konkreten anderen Menschen löst, wo die ‚Wahrheit gesagt wird‘ ohne Beachtung dessen, zu dem ich sie sage, dort hat sie nur den Schein, aber nicht das Wesen der Wahrheit. Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise ‚die Wahrheit zu sagen‘, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt.“ Dies sind Gedanken Dietrich Bonhoeffers zum Begriff der Wahrheit und ihre Bedeutung für den Menschen.
Die Beschäftigung mit religiöser Wahrheit erfolgt in diesem Freitagswort nicht ohne aktuellen Anlass. Ein junger Medizinstudent in der Türkei hat sich vor Kurzem das Leben genommen, weil er die religiöse Indoktrination in einem Studentenwohnheim in Trägerschaft einer religiösen Ordensbewegung nicht mehr ertragen hat. Sein Tagesablauf war bestimmt durch religiöse Pflichtgebete, die verpflichtende Lektüre religiöser Schriften und die Teilnahme an religiösen Vortragsveranstaltungen. Der Freiheit beraubt, nicht an religiösen Kulthandlungen und Aktivitäten teilnehmen zu müssen, aber zur Teilnahme gezwungen zu sein, um seinen Wohnheimplatz nicht zu verlieren, erschien ihm als eine Existenz ohne jede Lebensfreude und letztlich ausweglos.
Statt mit selbstkritischem Blick auf die Zustände in Wohnheimen in religiöser Trägerschaft zu schauen, ergehen sich die orthodoxen gesellschaftlichen Wortführer in der Türkei in Schimpftiraden gegen einen „atheistischen Westen“ und die dortigen Suizidstatistiken. Ihre religiösen Wahrheiten und Praktiken bleiben weiter ohne jeden Blick für das individuelle Schicksal des Studenten. Ihre religiöse Wahrheit bleibt ohne Bezug zum (verlorenen) Leben des anderen Menschen. Sie bleibt lediglich eine orthodoxe Äußerlichkeit, ein seelenloses religiöses Gewand, eine gewissenlose religiöse Hülle. Sie will weiterhin unumstößliche religiöse Wahrheit bleiben, obwohl sie keinen Zweck erfüllt außer der Selbstbestätigung einer vermeintlichen Überlegenheit des wahrhaftig Glaubenden.
Das ist leider kein fernes Problem. Auch von den hiesigen religiösen Institutionen, die als „muslimische Vertreter“ ihren Platz in unserer Gesellschaft beanspruchen, war und ist kein einziges Wort über dieses Ereignis zu hören. Auch sie betreiben Wohnheime, Internate und Ausbildungseinrichtungen. Was haben sie zu religiösen Pflichtprogrammen zu sagen? Was halten sie von einem Religionsverständnis, das die Lebensfreude junger Menschen erstickt? Es geht nicht um Schuldvorwürfe, aber doch um die Frage, was denn religiöse Organisationen in Deutschland zu diesem Thema zu sagen haben? Wenn nicht zu diesen Themen, zu welchen wollen sie dann öffentlich sprechen?
Und das Problem ist kein rein theoretisches Problem. Es fallen immer wieder junge Menschen in den sozialen Medien auf, die als geistliches Personal von hiesigen Verbänden ausgebildet wurden und teilweise auch religiöse Dienste in diesen Verbänden verrichten. Sie legen öffentlich ein Religionsverständnis an den Tag, das uns vor neue Herausforderungen im Umgang mit religiösen Institutionen in Deutschland stellen wird:
Einer dieser Instagram-Imame gefällt sich in der Rolle des Muezzin, der in einer – vermutlich – österreichischen Kirche mit Blick auf den Altar den islamischen Gebetsruf anstimmt. Es ist eine Geste der selbstgerechten Konfrontation und einer von Anstand und Respekt vor anderen Glaubensangehörigen vollkommen befreiten und in dieser Hybris auch noch selbstgefälligen Überlegenheitspose, die unter umgekehrten Vorzeichen – einem demonstrativen Vaterunser oder einem Kyrie eleison unter einer Moscheekuppel – Proteststürme der muslimischen Vertreter auslösen würde.
Es ist dieser fehlende Bezug zur Gegenwart, zum anderen Menschen, zur Freiheit des Anderen, zu einer vielfältigen Gesellschaft, die das religiöse Verständnis muslimischer Organisationen zunehmend prägt. Immer häufiger ist zu beobachten: Ihre jungen Absolventen, ihre jungen Imame von heute und morgen laden nicht zum Islam ein – sie reklamieren ihn als ihren eigenen Besitz, als ihren Maßstab, mit dem sie den Glauben anderer messen. Sie wollen anderen Menschen keine Vorbilder sein – sie wollen sich über den vermeintlich moralischen Verfall dieser Gesellschaft echauffieren. Sie wollen nichts Erstrebenswertes vorleben – sie wollen alle anderen tadeln. Sie wollen nachahmen – nicht eigenständig urteilen. Sie pflegen ihre klassische Lektüre – nicht ihr Gewissen. Sie achten auf ihre Äußerlichkeit als Manifestation ihrer Frömmigkeit – nicht auf die Gerechtigkeit ihres Redens und Handelns. Sie wollen nicht überzeugen – sie wollen überwältigen. Sie dienen nicht Gott – sie bedienen sich Gottes. Ihr Religionsverständnis feiert nicht das Leben – es erstickt es. Es ist toxisch.
Anmerkung: In dem Text geht es um den Fall eines Suizides. Bist du von ähnlichen Suizidgedanken betroffen? Du bist nicht allein. Sprich noch heute mit jemandem: TelefonSeelsorge 24 Stunden erreichbar: 0800 1110111 oder https://www.telefonseelsorge.de/