Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz
Ich nehme an, die meisten von Ihnen haben den neuen Film von Adam McKay gesehen: „Don’t Look Up“ Für diejenigen, die ihn noch nicht gesehen haben: Es ist eine schwarze Komödie über den Weltuntergang. Ein Komet rast auf die Erde zu und die Menschen teilen sich in drei Gruppen auf: Die einen streben immer noch nach Macht und Profit, die anderen wollen den Weltuntergang verhindern und eine dritte Gruppe sagt, es gibt gar keine Covid-Pandemie – oh, Entschuldigung; ich meine natürlich, es gibt keinen Kometen. Der Film war noch in der ersten Sendewoche auf Netflix – Startschuss war Heiligabend 2021 – auf Platz 1 in Deutschland. Ich habe ihn auch gesehen; er ist amüsant, absurd. Grundsätzlich gehen Filmkritiker:innen davon aus, dass wenn Anspielungen in einem Film einfach und klar zu verstehen sind, der Film relativ schlecht ist. „Don’t Look Up“ ist in jeder seiner Anspielungen klar; jede*r, der*die an Weltgeschichte und –politik ein wenig interessiert ist, erkennt die Anspielungen sofort. Wider Erwarten liegt eben darin die Stärke des Films, und genau das ist es, was mir seit Jahren Kopfschmerzen bereitet: Unsere Realität selbst ist Satire geworden.
„Don’t Look Up“ braucht Satire nicht zu verpacken, keine klug eingefädelten Anspielungen zu machen: Ersetzen wir die realen politischen Figuren, ändern das Thema ein wenig, schon funktioniert dies problemlos als schwarze Komödie. Er ist also genau nach unserem Geschmack; einfach, ohne großartig eingefädelte Kunstgriffe, die nach scharfem Sinnieren zum „Aha-Effekt“ führen. In unserer Realität sagen Fakten plötzlich nichts mehr aus (z.B. Covid-Pandemie, Klimawandel). Wissenschaftler:innen müssen alles so schön reden, dass man sich kaum mehr Sorgen machen muss. Boulevard-Presse ist hoch im Trend; auch die sinnlosesten Trennungsgeschichten werden analysiert, hier werden dann doch „Fakten“ gegenübergestellt und „Meinungen“ ausgetauscht. Informationsaustausch geschieht über plakative, vereinfachte, bunte und sinnfreie Social-Media-Plattformen. Vieles ist Show, oberflächlich und unehrlich. Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen sinkt Jahr für Jahr für ernste Fragen und Diskussionen auf das Niveau eines Kleinkindes, das nur einer lauten Rassel und schillernden Lichtern Aufmerksamkeit schenken kann. Ich weiß, so eintönig sind wir noch nicht; aber der Weg dahin ist nicht fern.
Sie werden sich fragen, was dies alles mit den Freitagsworten zu tun hat. Meine Antwort könnte einfach heißen: Viel! Das kann man gut posten – kurz und knapp. Sie, liebe Leser:innen der Freitagsworte, wird so eine Antwort aber nicht zufriedenstellen. Daher teile ich gerne meine Gedanken mit Ihnen: Die Oberflächlichkeit, auf die der Film verweist, das Schwarz-Weiß-Denken, das man ihm entnehmen kann und dass wir unsere eigene Verantwortung auf andere verlagern, sind Themen, über die wir nachdenken müssen. Wir verlernen es, über Themen nüchtern zu diskutieren, vor allem wenn es um religiöse Themen geht. Die Meinung, die präsentiert wird, wird nicht auf die Stichhaltigkeit hin überprüft, sondern nach den Kategorien, ob es Unglauben ist oder man doch nicht vom Glauben abfällt. Der Streit und nicht die Diskussion steht im Vordergrund. Damit sind wir im Schwarz-Weiß-Denken: Entweder ist etwas richtig oder falsch und nicht mehr nachvollziehbar, besser begründet oder zwei – oder mehrere – Optionen nebeneinander gültig. Wir haben keine Geduld mehr zuzuhören oder schwierige Themen anzusprechen: Alles muss glänzen, mit religiösen Formeln geschmückt werden, kurz, knapp und am besten so banal sein, dass man ohne nachzudenken versteht, was gemeint ist: „Im Islam ist das ḥarām bzw. ḥalāl“, „das ist kufr“ sind Lieblingsaussagen bzw. –antworten. Diejenigen, die trotzdem argumentieren wollen, rasten vielleicht am Ende aus Verzweiflung doch so aus wie Leonardo DiCaprio es am Ende des Films auch tat… Einem Argumentationsstrang zu folgen; dafür fehlt die Geduld. Einen solchen aufzubauen: zu anstrengend. Ein Argument überhaupt zu lesen: dafür fehlt die Zeit. Eine Meinung einfach als Fakt anzunehmen; das ist einfach. Man kann sie schön reposten – oder wie auch immer sich das nennt –, sich Freunde gewinnen, die das auch genauso mögen – oder liken – und schon hat man recht: Denken ja alle so wie ich! Ein Algorithmus greift auch ein: Ähnliche Meinungen poppen für mich immer wieder auf und schon bin ich einer Blase mit meinen Gleichgesinnten. Wo die Meinung herkommt, wie sie begründet ist und ob sie überhaupt Sinn ergibt; keine Zeit, denn da kommt schon ein neuer Post, eine neue Serie, eine neue Fatwa-Tik-Tok-Story usw…
Wir spielen uns durch das Leben durch; es ist ein Jump-and-Run-Spiel: je mehr Sterne/Punkte bzw. Meinungen wir sammeln, desto klüger sind wir. Dass aber Wissen zu schaffen und anzueignen Zeit braucht; das haben wir wieder vergessen: keine Zeit zum Nachdenken. Und damit tritt das dritte Problem ein, das ich oben angesprochen habe: fehlende Verantwortung. Da wir kaum Wissen aneignen, sondern nur aufnehmen und posten, können wir kaum über unser Handeln reflektieren. Wir schauen nur noch, wie schön und cool es andere finden; wir müssen sogar von anderen auf Instagram bestätigt werden, dass das, was wir essen, lecker ist. Im Grunde genommen können wir auch nicht mehr messen, wann wir selbst die Verantwortung dafür tragen, was uns gerade geschieht. Manchmal nehmen wir Gott mit ins Spiel. Nehmen wir die Corona-Pandemie als Beispiel: Gott bestraft uns dafür, dass wir sündig sind und amoralisch handeln. Nein: Wir bestrafen uns selbst, indem wir Dinge tun, die zu einer Pandemie führen! Wir sind es, die den Planeten zerstören und nein, nicht die Politiker:innen sollen die Klimakatastrophe lösen, sondern wir. Wer hindert uns daran, Maßnahmen selbst zu ergreifen, um all den genannten Katastrophen entgegenzuwirken? Muslim-Sein erfordert genau dies: Selbst Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Muslim-Sein ist kein Privileg, um einfach in das Paradies zu gelangen, indem man betet, fastet und noch einmal betet. Muslim-Sein ist eine bewusste Entscheidung, ja eine Chance, um über die eigene Verantwortung zu reflektieren, entsprechend zu handeln und Maßnahmen zu ergreifen, um das kollektive Bewusstsein wachzurütteln. Das ist der Grund, weshalb der Prophet sagte: „Meine Umma wird sich auf einen Fehler bzw. auf eine Sünde nicht einigen.“ Wir tun aber alles daran, den Propheten falsch liegen zu lassen.
Ich habe mit dem Film begonnen, möchte mit ihm meine Worte beenden: Der Slogan „Don’t Look Up“ führte im Film dazu, dass die Kometen-Leugner die Wahrheit nicht erkannten: Sie sahen nicht, dass der Komet auf die Erde zuraste. Es ist ironisch, dass der Koran mit demselben Slogan Menschen dazu aufruft, nicht immer von Gott alles zu erwarten und selbst Verantwortung zu übernehmen, sich seiner Fehler im Lichte der göttlichen Offenbarung und der prophetischen Weisung bewusst zu werden und sich stets zu bessern. Im Grunde genommen sagt der Koran: Schaut nicht nach oben, sondern in den Spiegel, schaut in euch hinein, übernehmt Verantwortung und handelt entsprechend!