In der zurückliegenden Woche haben wir – wie jedes Jahr – das Opferfest gefeiert. Viele von uns haben Opfertiere geschlachtet. Viele haben das Fleisch mit verschiedenen Menschen geteilt. Viele haben Geld gespendet und damit die Schlachtung eines Opfertieres in unterschiedlichen Ländern der Erde ermöglicht, so dass die Bedürftigen vor Ort mit dem Fleisch versorgt werden konnten.
Jedes Jahr wiederholen wir dieses Ritual. Wir hinterfragen dabei selten, warum wir an einem Ritual festhalten, das zumindest in unserer unmittelbaren Nähe, in unserer Nachbarschaft nicht wirklich zur Linderung von Not sinnvoll ist. Wir leben in einem Land, in dem selbst Menschen, die wirtschaftliche Not leiden, nicht vollständig auf Fleisch verzichten müssen, weil es etwa zu teuer wäre.
Und wie sinnvoll ist eine Schlachtung und Fleischverteilung in ärmeren Ländern, wenn unser Mitgefühl und unser Wunsch zu helfen auf einen Tag beschränkt bleiben und wir uns den Rest des Jahres keine Gedanken über die Lebensbedingungen und Bedürfnisse der dortigen Menschen machen?
Vor diesem Hintergrund entstehen Gedanken, die sich mit einer abstrakteren Ebene des Opferritus und dem abrahamitischen Vorbild von Opferbereitschaft beschäftigen.
Manche neigen zu einer Deutung, die die Frage danach stellt, was uns heute wertvoll ist, was wir heute herzugeben, zu opfern bereit sind? Aufmerksamkeit? Zuwendung? Liebe? Zeit?
Vielleicht sind auch diese Gedanken beachtenswert:
Abraham sehnte sich nach einem Sohn. Nach einem Nachkommen, der seinen Namen weitergibt, seinen Stamm erhält und damit dafür sorgt, dass sein Name seine irdische Existenz überdauert. Das sind Empfindungen und Sehnsüchte, die nur uns Menschen zu eigen sind, weil wir uns der Begrenztheit unserer Lebensspanne bewusst sind.
Könnte Abrahams Wunsch nach einem Sohn und sein Versprechen, diesen zu opfern, gerade den Moment unserer menschlichen Reifung widerspiegeln, in welchem wir uns das erste Mal unserer Sterblichkeit bewusst sind?
Unser Schöpfer hat uns mit dem Phänomen der infantilen Amnesie erschaffen. Wir können uns an die Ereignisse, die wir etwa vor dem Erreichen des dritten Lebensjahres erlebt haben, nicht erinnern. Wir haben keine Erinnerung an unsere Empfindungen im Mutterleib. Wir können uns nicht an unsere Geburt erinnern und auch nicht an die darauffolgenden Monate. Ungefähr im Übergang zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr beginnen wir, uns als eigenständiges Individuum zu erleben. Wir beginnen damit, eine sich selbst bewusste Persönlichkeit auszubilden.
Unser „Ich“ in der Welt kann sich nicht an seine Schöpfung, an seine Menschwerdung erinnern, gewinnt aber zunehmend die Erkenntnis, sich mit dem bevorstehenden Ende der irdischen Existenz dieses Ichs abfinden zu müssen.
Über den Moment, in welchem der Mensch aus Erde erschaffen wurde, haben wir keine eigenen Kenntnisse. Aber wir wissen, dass unser Körper dereinst zu Erde zerfallen wird.
Das Wissen um unsere Sterblichkeit nährt unseren Wunsch, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, der uns überdauert. Versprechen wir unserem Schöpfer ab diesem Moment der Einsicht in unsere Sterblichkeit nicht insgeheim, jeden Tag im Bewusstsein dieser Endlichkeit zu leben?
Zuweilen verdrängen wir die Bedeutung eines jeden Tages und füllen sie mit Nichtigkeiten, mit Monotonie, mit Arbeit, die uns nicht glücklich macht, mit Menschen, die uns nicht guttun, mit der Verschwendung von Lebenszeit.
Doch unser Schöpfer schickt uns immer wieder aufs Neue einen nächsten Morgen, einen nächsten Sonnenaufgang. Er schenkt uns bis zu jenem in der Regel ungewissen Tag immer wieder die Möglichkeit, unserer irdischen Existenz eine Bedeutung zu verleihen.
Er schenkt uns das Wunder des Lebens. Und gerade die Erkenntnis in die irdische Endlichkeit dieses Wunders motiviert uns dazu, es nicht zu vergeuden, sondern so zu nutzen, dass es einen Sinn erhält, der unseren Eigennutz übersteigt. Wir erhalten jeden Tag unseres Lebens die Gelegenheit, diesen Tag so zu opfern, dass er anderen Menschen Freude und Glück beschert.
Als eine solche Quelle des Glücks und der Freude in Erinnerung zu bleiben, ist das größte Opfer, das wir in unserem Leben und mit unserem Leben bringen können.
Denn am Ende erreichen unseren Schöpfer nicht das Blut oder das Fleisch, das wir opfern, sondern unser inneres Erschaudern, unsere Demut, in Dankbarkeit für das Geschenk unseres Lebens, Ihm zum Wohle seiner Schöpfung dienen zu können.