Eine Gemeinschaft der Mitte

Ein Gastbeitrag von Dr. Patrick Isa Brooks

„Wir haben euch zu einer ummah wasaṭ, einer Gemeinschaft der Mitte, gemacht“ (2:143), heißt es im Koran. Das Wort richtet sich zunächst zwar an die Urgemeinde um den Propheten ﷺ in Medina, doch es ist auch für das Selbstverständnis von Musliminnen und Muslimen weltweit prägend geworden. Diese Bezeichnung auf uns zu beziehen ist aber nur möglich, wenn wir dabei anerkennen, dass sie keinen Ist-Zustand beschreibt, sondern stets ein Auftrag an uns bleibt: Es ist unsere Bestimmung, eine Gemeinschaft der Mitte zu werden!

Was aber bedeutet es konkret, eine ummah wasaṭ zu sein, sprich welche Aufgabe können wir daraus für uns ableiten? Der Koran bietet zur charakterlichen Haltung der wasaṭiyya, also der Ausgewogenheit oder „Mittigkeit“, mehrere Verständniszugänge an. Einige von diesen sind uns wohlvertraut, andere dagegen oft weniger geläufig. In jedem Fall aber lohnt es sich, sie hin und wieder ins Bewusstsein zu holen.

Die bekannteste Deutung zu wasaṭiyya dürfte das Maßhalten bzw. das Streben nach der „goldenen Mitte“ zwischen zwei Extremen, wie etwa zwischen Geiz und Verschwendung (17:29), sein. Im selben Zusammenhang wird zudem argumentiert, dass der Islam ein gesundes Gleichgewicht an religiösen Regeln und persönlicher Freiheit gewährleiste oder dass er die Mitte zwischen Askese und Genussstreben suche.
Mit Blick auf das gesellschaftliche Miteinander sollte das Ideal der wasaṭiyya aber auch stets als kategorisches Nein zu jeglicher Polarisierung sowie als Offenheit für den Kompromis gedacht werden. Ein Rückzug in ideologische „Schützengräben“ ist mit der Mitte nicht vereinbar. Sie sucht den Ausgleich und ist gegen jedwede Form eines „Wir gegen die Anderen“ zu verteidigen.

Hierzu passt auch, dass der Koran die mittlere Haltung mit Besonnenheit gleichsetzt (68:28): Sie ruft zur Vernunft, vermittelt und ermahnt zum Tun des Rechten. Außerdem lernen wir aus der Sunna, dass wasaṭ im koranischen Gebrauch ein anderes Wort für ʿadl, also „Gerechtigkeit“ oder „Geradheit“ sein kann (Buḫārī § 3339). Eine ummah wasaṭ wäre nach dieser Auslegung also eine Gemeinschaft, die in Streitfällen unparteiisch ist, die Gerechtigkeit liebt und Frieden stiftet (49:9-10). Sie steht in der Mitte, weil sie sich zu keiner der beiden Seiten neigt. Auf diese Weise kann sie Schiedsrichterin für die gute Sache werden.
An das Stichwort „Geradheit“ lässt sich wiederum ein weiteres Verständnis von wasaṭiyya anschließen, welches erneut aus dem Koran selbst ableitbar ist: Das Konzept der Mitte wird dort nämlich auch mit Gottes geradem Pfad, dem ṣirāṭ mustaqīm, in Verbindung gebracht (2:142). Ihn zu beschreiten und dabei weder nach rechts noch nach links abzuweichen, wäre demnach ein mittlerer Weg.

Doch was kennzeichnet diesen ṣirāṭ mustaqīm, welchen wir in unseren täglichen Gebeten erwähnen und auf den wir von Gott geleitet werden möchten? Auf den Glauben bezogen, ist der ṣirāṭ mustaqīm als direkter Pfad zu Gott – und damit als Heilsweg – verstehbar (4:175). Auf die Ethik bezogen, ist er dagegen etwas, das der Koran mit den Zehn Geboten in Verbindung bringt: Der ṣirāṭ mustaqīm stellt hierbei einen Weg dar, der über die gemeinsame Achtung elementarer Prinzipien zu gesellschaftlichem Zusammenhalt führen und Gräben der Feindschaft nachhaltig überwinden will (6:151-153). In diesem Sinne ist er ebenfalls ein Heilsweg, und zwar einer, der auf das Wohlergehen der Menschen auch im Hier und Jetzt abzielt!

Sich dies bewusst zu machen, ist wichtig, denn der Prophet ﷺ und seine Gemeinde schufen in Medina keine gesellschaftliche Nische von rechtgläubigen Menschen, die abgewandt von der Welt in Ruhe ihrer Gebete und Kulthandlungen nachgingen. Vielmehr entwarfen sie das Ideal einer gerechten, aufrichtigen und gütigen Solidargemeinschaft, welche der Willkür und Rechtlosigkeit der Stammesgesellschaft ein Ende setzen würde. Alle Menschen, die dieses Ideal teilten, sollten eingeladen werden, an dieser Gesellschaft mitzubauen und auf diesem Wege eine Wertegemeinschaft zu bilden, die über religiöse Grenzen hinwegreichen würde.

Natürlich sollte in Medina auch eine Glaubensgemeinschaft entstehen, jedoch keine exklusive, die sich selbstgerecht als ummah wasaṭ betrachten und alle übrigen Gruppen der Gesellschaft sich selbst überlassen würde, nein: Eine „Gemeinschaft der Mitte“ zu sein, war von Anfang an mit der besonderen Verantwortung verbunden, ein gutes Beispiel für andere abzugeben und so aktiv für das zu werben, was als maʿrūf – d.h. „allgemein anerkannt“ und „rechtmäßig“ – galt: Wer in der Mitte steht, dessen Tun bleibt bekanntlich nicht unbemerkt.

Zu dieser Verantwortung zählte außerdem der engagierte Einsatz für die Schwachen sowie das couragierte Aufbegehren gegen Unrecht und soziale Missstände. Eine ummah wasaṭ wäre demnach weder weltvergessen noch selbstgenügsam, sondern stets mitten im gesellschaftlichen Geschehen; eine Gemeinschaft, die der Menschen Nöte und Ängste ernstnimmt, sich einmischt und beherzt zupackt; eine Gemeinschaft, die unter Frömmigkeit sowohl Gottes- als auch Nächstenliebe begreift.

Als Musliminnen und Muslime im Deutschland von heute gehören wir natürlich nicht der Urgemeinde um den Propheten ﷺ an und können daher auch nicht wissen, ob wir den Ehrentitel „Gemeinschaft der Mitte“ überhaupt noch verdienen. Wir können uns aber immer wieder der vielfältigen Deutungsmöglichkeiten dieses Begriffs besinnen und täglich darum bemüht sein, eine solche Gemeinschaft zu werden. Lasst uns die vielen Denkanstöße, die in ummah wasaṭ stecken, weiterführen und stets aufs Neue in gesellschaftliches Handeln übersetzen!