Wenn man von Gewalt und Unrecht betroffen ist, fällt es schwer, geduldig zu sein.
Wenn man von Verachtung und Hass betroffen ist, fällt es schwer, vergebend zu sein.
Wenn man das Gefühl hat, trotz all dieses Leids und des Unrechts ändere sich nichts, fällt es schwer, nicht wütend zu sein, nicht zornig zu sein.
Die Gedenktage, sie häufen sich in unserem Land. Nach behördlichen Statistiken sind in den letzten 30 Jahren 109 Menschen Opfer rechtsextremer tödlicher Gewalt geworden. Nach journalistischen Recherchen ist von einer Mindestzahl von 187 Mordopfern auszugehen. Würden wir unsere Erinnerung an diese Opfer über das Jahr verteilen, müssten wir etwa an jedem zweiten Tag einem Mordopfer gedenken. Jeden zweiten Tag.
An jedem zweiten Tag müssten wir daran erinnern, dass ein Mensch umgebracht wurde, weil er den Tätern, die das Deutsch-Sein für sich gepachtet haben, nicht als einer von ihnen galt, nicht als Deutscher galt.
Wie kann es Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder sonstigen Kriterien als fremd markiert und damit abgewertet werden und die damit einem tödlichen Hass preisgegeben werden, dennoch gelingen, sich nicht von dieser Gesellschaft abzuwenden? Wie kann es gelingen, sich als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen?
Ist es angesichts derartigen Hasses und solch tödlicher Gewalt nicht verständlich, frustriert und wütend zu sein, schreien, auf diese Gesellschaft schimpfen und sie verfluchen zu wollen? Ist es nicht ein absolut menschlicher Impuls, all jene zu verachten, von denen man nur Verachtung erfährt? Ja, all das ist menschlich.
Sich diesen Gefühlen nicht hinzugeben, bedarf es einer inneren Überwindung, die ihre Kraft aus einer göttlichen Eigenschaft bezieht. Zum Allbarmherzigen, zum Allgnädigen beten wir mehrfach am Tag. Wir hoffen auf Seine Vergebung. An vielen Stellen des Koran lesen wir, dass Vergebung besser ist als Wiedervergeltung. Wir beten jeden Tag, Er möge uns den rechten Weg weisen und uns davor bewahren, dem Irrtum des Zorns zu verfallen.
Wie kann aus einem Feind ein warmherziger Bruder werden? Der Koran lehrt uns, dass wir dafür eine schlechte Tat mit einer besseren Handlung erwidern müssen. Wir müssen gerecht und vergebend sein, selbst wenn man uns gegenüber nicht gerecht ist. Wir müssen unsere Mitmenschen gerecht behandeln, selbst wenn diese das nicht verdienen.
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Dieses Gebet verbindet uns mit unseren christlichen Geschwistern in und mit der Tugend der Vergebung.
Vergebung bedeutet nicht, Unrecht zu dulden oder zu vergessen. Vergebung bedeutet aber, auf Vergeltung zu verzichten, von Ansprüchen zurückzutreten. Und damit Raum zu schaffen. Raum für Veränderung. Für Veränderung auch desjenigen, der ungerecht handelt, der hasst, der Gewalt ausübt.
Martin Luther King war kein Muslim, aber er hat einen sehr muslimischen Traum geträumt. Er träumte nicht von Rache oder von Vergeltung. Er träumte nicht von Strafe und Ächtung. Er träumte von einer Tischgemeinschaft der Nachkommen jener, die Unrecht verübten und jenen, die Unrecht erdulden mussten. Er träumte von einer gemeinsamen Freiheit für Menschen eines gemeinsamen Landes. Er träumte von einer Veränderung seines Landes. Sein Protest hatte nicht den Vorwurf von Schuld zum Inhalt oder den Eifer einer zornigen Anklage.
Er sprach, um den beschämenden Zustand zu beschreiben, dass Hass und Diskriminierung einen Menschen dazu zwingt, im Exil in seinem eigenen Land zu leben. Er sprach davon, dass das Versprechen auf Freiheit und Gerechtigkeit für alle eingelöst werden muss.
Er sprach davon, dass der Durst nach Freiheit nicht gestillt werden kann, indem man aus dem Becher der Bitterkeit und des Hasses trinkt.
Für diese Gedanken wurde Martin Luther King ermordet. Das ist aber kein Beleg dafür, dass der Hass wirksamer ist oder stärker ist als unsere Bereitschaft zur Liebe, zur Gerechtigkeit und zur Veränderung. Es ist nur ein Beleg dafür, dass wir bereit sein müssen, uns für eine gemeinsame Zukunft einzusetzen, deren Früchte wir selbst vielleicht nicht ernten werden.
Einigkeit und Recht und Freiheit sind für viele Menschen keine Beschreibungen unserer deutschen Realität. Sie sind heute noch ein uneingelöstes Versprechen. „Danach lasst uns alle streben“, bedeutet eben auch, dass es diesen Zustand noch zu erreichen gilt.
Das ist aber kein Weg, den wir Muslime allein gehen können. Trotz aller Ausgrenzung müssen wir erkennen, dass es gilt, diesen Zustand für unser gemeinsames Land zu erringen. Wir müssen erkennen, dass sich unser Schicksal nicht losgelöst vom Schicksal dieses Landes und dieser Gesellschaft verwirklicht, sondern dass unser aller Schicksal miteinander verwoben ist.
Erlittenes Unrecht nur vergelten zu wollen, Hass nur erwidern zu wollen, Verachtung nur mit Verachtung beantworten zu wollen, wird uns nicht zu einer solchen Erkenntnis leiten. Das wird uns nur gelingen, wenn wir nicht andere durch den Vorwurf der Schuld zu verändern suchen, sondern uns gemeinsam um Veränderung bemühen. Wenn wir die Bereitschaft zur Veränderung vorleben.
„Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.“ (13, 11)