Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz
„Recycling im Islam“ als Überschrift hätte wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit erregt als die Frage nach Haram. Das Spiel um Halal und Haram habe ich nicht gern. Die Kategorie haram ist aber immer noch mächtiger als jede andere. Merkwürdig, dass ich beim Anblick einer Portion Saft „Immunbombe“, in einem recycelbaren Becher, daran denken musste.
Haram markiert Grenzen: Wir fragen zwar, ob etwas halal ist, wollen aber eigentlich wissen, dass etwas nicht haram ist. Wir denken ex negativo. Haram stiftet immer noch Identität, zeigt die Überlegenheit derjenigen, die sie nicht übertreten: Wenn etwas haram ist, ist die Übertretung so gravierend, dass man dies vor anderen Menschen versteckt. Ob es Gott sieht, interessiert leider die wenigsten. Die, die es interessiert, finden Zuflucht in der Reue (tawba). Es gibt also immer einen Ausweg aus dem haram, indem man gerade steckt. Ja, genau: Indem man immer noch steckt! Führt man eine Handlung aus, die haram ist, muss man Reue zeigen, also tawba leisten und sich fest vornehmen, in Zukunft nicht mehr so zu handeln. Selbst jene, die ihren Alltag nicht nach religiösen Vorsätzen strukturieren, achten auf diese Kategorie: Wenn sie muslimisch sozialisiert sind, würden die wenigsten den Haram begehen, Schweinefleisch zu verzehren. Alkoholkonsum; da sind wir im Umgang ein bisschen lockerer, wieso auch immer…
Wenn haram doch so mächtig ist, wenn diese Kategorie die meisten Muslime von Taten abhält, die sich auf das Individuum und auf die Gesellschaft schlecht auswirken, frage ich mich: Wieso achten so wenige Menschen auf den Umweltschutz und recyceln nur lässig und unbedacht? Sind Umweltschutz und Recycling etwa haram? Will man diesem haram entgehen? Hat man Angst davor? Was hemmt uns?
Oder ist Recycling doch wāǧib, eine kollektive (kifāʾī) Pflicht für Muslime? Es ist erstaunlich zu beobachten, wie unbesorgt mit Müll und Natur umgegangen wird. Die Jugendlichen wollen hier etwas bewirken, weil sie existentiell betroffen sind.
Wir begehen die Sünde, dass wir ständig das in Anspruch nehmen, was eigentlich den späteren Generationen gehört. Usurpation nennt sich das im islamischen Recht, ġaṣb! Verboten! Wer achtet darauf, obwohl es haram ist? Nur die existentiell Betroffenen. Wann werden wir damit anfangen, proaktiv tätig zu werden, ohne existentiell betroffen zu sein? Antworten wir traditionell darauf: Allāhu aʿlam (Gott weiß es am besten)!
Wir nehmen also nur solche haram ernst, die wir selbst auf dem Schirm haben. Wir haben ein Haram-Universum, das wir selbst gestalten, und zwar so eng, dass alles andere, was außerhalb dessen bleibt, unbedeutend wird, insbesondere dann, wenn wir nicht existentiell betroffen sind. Wir haben damit eine doppelte Konstruktion des haram und damit eine Doppelmoral. Die haram-Handlungen, an die wir uns halten, sind, wenn wir ehrlich sind, oft Lappalien. Die wichtigen, die Gesamtgesellschaft betreffenden Fragen kommen zu kurz und werden beiläufig erwähnt. Traditionell gesprochen: Sie sind es nicht wert, in das halal-haram-Universum aufgenommen zu werden.
Nietzsche wollte, dass wir uns dem realen Leben, dem Jetzt zuwenden und es genießen. Gleiches hatte Ibn Sīnā, Avicenna, im Sinn. Beide würden sich im Grab drehen, wenn sie wüssten, was wir aus der wunderbaren Idee der „Lebenszuwendung“ gemacht haben: Ignoranz gegenüber allem, was unserem Komfort und Eigensinn widerspricht. Wir haben es auch mit religiösen Begriffen untermauert: vieles, was die Gesellschaft zerstört, ist nur verpönt (makrūh), also lieber zu vermeiden als zu tun. Eine Empfehlung, mehr nicht! Der Grund: Es steht nicht explizit in Koran und Sunna, allenfalls wird es angedeutet. Unsere Engstirnigkeit im halal-haram-Denken hat uns blind gemacht, gesellschaftliche Probleme anzugehen und aktiv zu werden. Ja, es gibt Einzelinitiativen. Aber: Es fehlt das Kollektivbewusstsein für gesamtgesellschaftliche Probleme. Recycling ist nur ein Beispiel, das dazu drängt, ernst genommen zu werden, aber eher ignoriert wird, obwohl wir jeden Tag mit diesem Problem zu tun haben. Müll nach Belieben zu entsorgen und erneut zu produzieren ist ja in unserer Wahrnehmung nicht haram, daher keine Sünde, daher egal. Wie befreien wir uns aus dieser Spirale? Durch Abkehr (tawba) von dieser Haltung der Doppelmoral.
In Frankfurt a.M. auf dem Radweg am Ufer des Mains in Frankfurt Mitte Richtung Offenbach befindet sich ein Podest, auf dem die ersten Drei eines Wettbewerbs Platz finden. Eine Touristenattraktion auf der schönen Wiese am Main entlang. Auf dem ersten Platz steht mit Großbuchstaben: Ich. Besser hätte man unsere Haltung nicht ausdrücken können: Es geht oft nur ums Ich. Im heutigen Halal-Haram-Universum ist die Haltung gleich. Es geht ums Ich: das Ich, das sich vor haram um des eigenen Ichs willen abwendet, für das Paradies, aus Furcht vor der Hölle. Muslimsein wird damit zum individuellen Privileg. Muslim zu sein ist aber kein individuelles Privileg, sondern bringt Verantwortungen mit sich.
Dazu bald mehr in einem der nächsten Freitagsworte.