Es gibt Ideen und Anschauungen, die von dermaßen vielen Kulturen, Religionen und Philosophien teilweise unabhängig voneinander aufgegriffen werden, dass man sie zu einem gemeinsamen menschlichen Erbe erklären muss. Die Aufforderung “Gnothi seauton” (gr.) oder “Temet nosce” (lt.), zu deutsch: “Erkenne dich selbst”, darf man wohl zu den Aussagen zählen, die eine menschheitsgeschichtlich durchdringende Wirkung haben.
Als Muslim muss man nicht unbedingt Interesse an “griechischer” Philosophie zeigen, um über diesen Ausspruch zu stolpern. Auch in der Literatur muslimischer Gelehrter hat diese Aussage sehr früh einen festen Platz eingenommen. In der abgewandelten Form “Wer seinen Nafs (sein Selbst) kennt, der kennt seinen Herrn” wird er oftmals als Hadis dem Propheten selbst zugeschrieben, auch wenn das Vorliegen einer solchen Überlieferung von Hadis-Gelehrten angezweifelt wird.
Wir stolpern über diese Aussage aber auch bei Imam Maturidi (gest. 941 n. Chr.), dem Gründer der Maturidiyya-Theologie. Dieser theologischen Schule folgen insbesondere hanefitische Muslime, die zahlenmäßig in Deutschland die Mehrheit der Muslime darstellen dürften. “Unserer Ansicht nach erkennt der seinen Herrn, der sich selbst (seinen Nafs) erkennt”, schreibt Imam Maturidi in seinem Hauptwerk “Kitāb at-tauḥīd” (Buch über den Monotheismus).
Für Maturidi ist die Selbsterkenntnis ein Weg des Staunens. Er geht davon aus, dass wir gerade nicht in der Lage sein werden, unser Sein in all seinen Facetten zu erkennen. Die Komplexität unserer Physiologie und unserer Psychologie, unserer Körperlichkeit und unseres Geistes setzt unserer Erkenntnisfähigkeit Grenzen. Maturidi geht jedoch nicht von einer grundsätzlichen Unfähigkeit des Erkennens aus. Die Möglichkeit des vollständigen Erkennens ist es, die Maturidi anzweifelt.
Die Wissenschaft scheint ihm in dieser Skepsis Recht zu geben. Das Voranschreiten der wissenschaftlichen Erforschung des Menschen beantwortet zwar viele Fragen, sie bringt jedoch noch viel mehr Fragen hervor. Jede mühsam erarbeitet Antwort versetzt uns in Erstauen und sorgt für noch mehr Fragen.
Maturidis Selbsterkenntnis führt zur Anerkennung der eigenen Grenzen, den Unzulänglichkeiten des Menschen. “Gegenüber all diesen Wahrheiten, erreicht der Einzelne das Bewusstsein, dass er sich mit all den Eigenschaften nicht selbst erschaffen hat und nicht über sich selbst herrschen kann.” Maturidi lehnt die Erkenntnis mit den Sinnen nicht ab. Gerade mit diesen Sinnen wird der Mensch für ihn zum sensibelsten und fähigsten Wesen unter den Geschöpfen, der die Wahrheiten, denen er begegnet, begreifen kann.
Dabei muss der Menschen nicht gesondert dazu aufgerufen werden, seinen Verstand einzusetzen. Für Maturidi kann der Mensch gar nicht anders, als verständig zu denken. “Der Verstand neigt dazu, Widerstand gegen die Vernachlässigung seines Einsatzes zu leisten” postuliert er, genauso wie der Müßiggang lebenswichtiger Organe nicht möglich sei.
Maturidi fordert vielmehr dazu auf, das Denken nicht an physikalischen Grenzen enden zu lassen. Das Physische soll vielmehr den Weg zum Metaphysischen, zu dem Dahinter- und Darüberliegenden eröffnen. Die Beschäftigung mit dem Selbst ermöglicht bei Maturidi dem Menschen das Erreichen der Erkenntnis, dass er das eigene Dasein einem Allmächtigen (Qadir), der nicht in Hilflosigkeit verfällt, einem Allwissenden (Alim), der nicht der Ignoranz verfällt, einem seinen Willen Durchsetzenden (Dschabbar) verdankt.