Der Reichtum des armen Herzens

Unsere Religion, unser Din, ist ohne Dankbarkeit nicht zu denken. Dankbarkeit gegenüber Allah zu zeigen bedeutet, in seinem Herzen verstanden zu haben, was einem Allah alles geschenkt hat und in jeder Sekunde schenkt. Es fängt an beim Offensichtlichen: Wir danken Gott für das Essen, das wir zu uns nehmen, für die warme Kleidung, die wir anlegen, wenn es jetzt draußen wieder ungemütlicher wird; für die liebevolle Familie danken wir Ihm, genauso wie für den Frieden draußen vor der Haustür.

Wenn wir jedoch weiter darüber nachdenken, beschenkt uns Gott noch auf viel existenziellere Art und Weise, ununterbrochen. Wir können uns durch ein einfaches Experiment schnell in die Lage höchster Dankbarkeit versetzen. Dazu müssen wir einfach nur kurz die Luft anhalten und schauen, wie lange wir durchhalten. In den ersten zehn Sekunden können wir vielleicht noch mit Gott diskutieren, Ihm zeigen, wer der Stärkere ist. Schließlich ist es ja unser Körper und unser Wille. Wenn wir uns zusammenreißen, schaffen wir vielleicht noch 20, 30, 40 Sekunden, wenn wir trainiert sind vielleicht noch ein bisschen mehr.

Spätestens dann aber sind wir am Ende. Nun würden wir alles dafür geben, wieder tief einatmen zu dürfen. Wir zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen. Selbst der stärkste Rambo knickt früher oder später ein. Wir realisieren, dass wir gar nicht so stark sind wie wir gedacht haben und dass wir mit unserer ganzen Existenz von Gott abhängig sind.

Nun war das jedoch lediglich ein bewusst herbeigeführtes Experiment; nachdem wir es abgeschlossen haben, scheint der existenzielle Ernst schnell wieder verflogen. Doch der Schein trügt: Nichts in dieser Welt garantiert uns unser stetiges Ein- und Ausatmen. Wir müssen einfach nur unsere Perspektive umdrehen: Nicht das Atmen ist die Selbstverständlichkeit und die Atemlosigkeit die Ausnahme; vielmehr ist das Atmen selbst das unfassbare Wunder, das uns Gott in jedem Augenblick aufs Neue gewährt.

Wenn wir das nur vollkommen realisieren könnten, würden wir in einem permanenten Zustand totaler Dankbarkeit leben. Undankbarkeit ist daher lediglich die Folge unserer Ignoranz gegenüber dieser Wahrheit. In einer Überlieferung bei Al-Bukhariyy heißt es:
„Der Prophet, Allahs Segen und Frieden auf ihm, stand solange im Gebet, bis seine Füße schwollen. Da sagten die Leute zu ihm: „Allah hat dir doch deine vergangenen und künftigen Sünden vergeben!“ Der Prophet erwiderte: „Soll ich denn nicht ein dankbarer Diener sein?“

Er hätte es nicht tun müssen. Gott hatte ihm das, was er hier getan hat, nicht zur Pflicht gemacht. Folglich hat ihn nicht Eigennutz zu diesem aufopferungsvollen Beten veranlasst. Unser geliebter Meister Muhammad – Gott gebe ihm Segen und Frieden – hat vielmehr in einer permanenten Erkenntnis seiner totalen Abhängigkeit von Gott gelebt. Mit jedem Atemzug hat er die unermesslichen Segnungen Allahs vor Augen gehabt, die uns allen durchgehend zuteilwerden. Deshalb waren für ihn die angeschwollenen Füße in dieser Situation sekundär. Es ist für uns daher besonders erhellend, dass er auf die Nachfrage der Leute mit der Entgegnung reagierte, ob er „denn nicht ein dankbarer Diener sein“ solle.

Im Vergleich zu unserem heutigen Lebensstandard war der Prophet ein armer Mann – Segen und Frieden Gottes auf ihn! Vieles, wofür wir heute dankbar sein müssen, hat er nie besessen. Und dennoch hatte er in seiner kleinen bescheidenen Hütte so viel Dankbarkeit im Herzen, dass er Tag für Tag stundenlang im Gebet stand. Denn im Herzen war der Prophet ein Faqir – einer, der seine Armut und Bedürftigkeit gegenüber Gott voll erkennt –, und gerade deswegen in seiner Dankbarkeit zu Gott der reichste Mensch, der je gelebt hat.

Gerade in der heutigen Zeit materiellen Wohlstands sollten wir die Tugend der inneren Armut wieder zu pflegen versuchen. Praktisch bedeutet das: Für alle weltlichen Güter, die man hat, dankbar sein, aber zugleich nicht denken, dass man durch diese wirklich reich ist. Wir sollten uns innerlich nicht an sie binden, sie nicht brauchen wollen. Denn das einzige, was wir am Ende wirklich brauchen, ist Gott. (lsj)