Christchurch. Sri Lanka. An diesen Orten haben wir wieder erleben müssen, in welche Abgründe menschliches Handeln sinken kann; dass der Mensch zu Handlungen größter Grausamkeit fähig ist. Das ist die erste Erkenntnis, der wir uns stellen müssen. Die Täter sind keine Monster, keine Verirrungen unseres menschlichen Wesens, keine übernatürlichen, unfassbaren Kreaturen, fern von uns und unseren Potentialen. Die Täter sind Menschen aus unserer Mitte. Sie sind geprägt durch unsere gesellschaftlichen Bedingungen, durch unsere Debatten und Erzählungen. Die Täter formulieren keine neuen Ansichten oder Positionen, sie offenbaren keine originären Motive. Sie zitieren das, was unsere Debatten seit mindestens 20 Jahren prägt.
Wir bewegen uns in einer Debatte der Abgrenzung, der Differenzierung und der Urteilsfindung durch qualitative vergleichende Bewertung unterschiedlicher religiöser oder kultureller Inhalte. Vielfalt verstehen wir in erster Linie als einen faktischen Zustand einer als zunehmend aufgezwungen erlebten Vieldeutigkeit und Verschiedenheit der uns unmittelbar umgebenden Welt. Die Präsenz des Anderen, des Fremden empfinden wir als Belastung, als Zumutung. Wir erdulden Vielfalt mehr, als dass wir sie bewusst schätzen.
So entstehen unsere identitären Enklaven vermeintlich glaubwürdigerer Bekenntnisse, bewahrungswürdigerer kultureller Qualitäten und Traditionen. In den Dialog mit dem Anderen, dem Fremden treten wir zunehmend aus einer vergleichenden Perspektive. Da aber die eigene Qualität zu einer Erzählung absoluter Gewissheit geworden ist, kann dieser Vergleich immer nur bestätigen, wie sehr man das Bessere, das Höhenwertigere ist. Und wie dadurch das Andere und Fremde zumindest als unbrauchbar und nutzlos, im schlimmsten Fall aber als Gegner, als existenzielle Bedrohung des Eigenen verstanden wird.
Dieses Denken führt uns zu einem Handeln, das nicht davor zurückschreckt, Menschen während ihrer Gottesdienste zu ermorden. Die Kundgabe der Nichtachtung, des Vernichtungswillens wendet sich nicht nur gegen das Leben der Betroffenen selbst, sondern darüber hinaus demonstrativ gegen den Ritus, gegen die Tradition und das Bekenntnis des Anderen.
Auf diese Ereignisse reagieren wir kollektiv wieder nur mit Verurteilungsritualen und der größtmöglichen Distanzierung von den Tätern. Das hat mit uns nichts zu tun. Das hat mit unserem Glauben nichts zu tun. Heißt es dann immer wieder. Und immer wieder erkennen wir nicht, dass diese Haltung – so verständlich sie als Reflex ist – nichts an unserer Situation verändern wird.
Denn natürlich verstehen und praktizieren wir unseren jeweiligen Glauben in einem völlig anderen Sinn, als die Täter diesen Glauben zur Grundlage ihrer Tötungsmotivation werden lassen. Aber sie bedienen sich aus dem üppigen Fundus der Ausgrenzung und Selbstüberhöhung, deren Potentiale in jedem Glauben eben auch angelegt sind. Sobald der vergleichende Blick anfängt, qualitativ zu hierarchisieren, zu ordnen und zu gewichten, beginnt er, anfällig zu werden für die Frage, welche Existenzberechtigung das Andere, das Fremde überhaupt noch hat.
Warum andere Religionen aushalten, wenn doch die einzige Religion bei Allah der Islam ist? Weshalb den Irrglauben anderer Gemeinschaften tolerieren, wenn der Glaube an einen Heidengott eben nicht der Weg und die Wahrheit und das Leben sein kann?
Wir müssen einsehen, dass dieser vergleichende Blick uns in eine dunkle Sackgasse führt. Wenn wir gesellschaftliche Vielfalt als einen erstrebenswerten Zustand begreifen und diesen fördern und schützen wollen, müssen wir zu einem anderen Verständnis pluralen Miteinanders kommen.
Wir müssen den Zweifel des Anderen an dem, was uns Eigen ist, aushalten, ja ihn gar als Herausforderung zum Gespräch, zur Begegnung verstehen. Und wir müssen lernen, den Anderen nicht im Vergleich zu unseren Überzeugungen, sondern in der Binnensphäre seines Glaubens- und Bekenntnissystems zu verstehen. Es darf keine Rolle spielen, ob Inhalte oder Rituale Entsprechungen in der eigenen Glaubenswelt aufweisen. Wir müssen vielmehr lernen, zu verstehen, warum für den Anderen sein Glaube in sich glaubwürdig und schön ist.
Wir müssen entdecken, dass etwas, woran wir nicht glauben, es verdient, unbedingt erhalten und bewahrt zu werden – eben weil es dem Anderen, mit dem wir zusammenleben, wichtig und bedeutsam ist. Wenn wir uns darauf einlassen, einander in dieser Weise zu begegnen, müssen wir nicht zwangsläufig, können wir aber immer häufiger Facetten in der Glaubenswelt des Anderen entdecken, die uns faszinieren – auch wenn wir nicht daran glauben.
Aber wir können der Faszination des Glaubens etwas abgewinnen, einen Augenblick des Staunens und Erschauderns erleben, der uns als Menschen verbindet.
Es gibt ein Gemälde des italienischen Malers Caravaggio mit dem Titel „Der ungläubige Thomas“. Es ist über 400 Jahre alt und befindet sich heute in der Bildergalerie Sanssouci in Potsdam. Es zeigt eine Szene aus dem Johannesevangelium 20, 24-29:
„Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“
Caravaggio zeigt uns einen zweifelnden Thomas im Moment, als sein Zeigefinger in die Seitenwunde eindringt. Thomas ist hochkonzentrierten, fast wissenschaftlich untersuchend, die Stirn in zig Falten gelegt, die linke Hand angespannt auf die Hüfte gestützt. Er berührt lebendiges Fleisch, aber eine Wunde ohne Blut oder Ausfluss.
Der untersuchende Thomas wirkt als Hauptfigur der Bildkomposition. Jesus erscheint fast wie eine Nebenfigur. Er hält den rechten Arm des Thomas am Handgelenk und führt dessen Hand zur Wunde. Es ist eine auffordernde aber nicht aufdringliche Geste. Jesus wirkt entspannt, gelassen, verständnisvoll, ermutigend, geduldig.
Wir können lange darüber diskutieren, was diese Szene nach der Auferstehung Jesu – an die wir aus muslimischer Perspektive nicht glauben – ausmacht. Was bedeutet sie für unsere christlichen Geschwister? Wird Thomas für seinen Zweifel gescholten? Oder wird er als durch und durch menschliche Figur beschrieben, als die er nur an das glauben kann, was er versteht, was er unmittelbar mit seinen Sinnen erfassen kann? Wird der Glaube gepriesen, der den Zweifel überwindet? Oder wird der Zweifel als Bedingung des Glaubens beschrieben? Straucheln wir mit Thomas vor der Herausforderung, vor der wir alle stehen, seitdem Adam und Eva auf der Erde weilten – an einen Gott zu glauben, den wir nicht sehen können, den wir nicht unmittelbar begreifen können?
Die Mörder von Sri Lanka haben Menschen während des Ostergottesdienstes ermordet. Vielleicht sogar in einem Augenblick, als dort gerade über diese Verse und diese Fragen gesprochen wurde. Man hat ihnen die Schönheit, die Widersprüchlichkeit, die Herausforderung einer anderen Glaubenswelt nicht als etwas Faszinierendes beigebracht. Sie haben nur gelernt, das Andere zu hassen und zu dessen Vernichtung bereit zu sein. Das Potential zu so einer Bereitschaft können und müssen wir Muslime unter uns thematisieren.
Denn der Keim der Geringschätzung, der Abwertung anderer religiöser Inhalte fällt auch in unserer Mitte viel zu oft auf fruchtbaren Boden. Wir müssen deutlich machen, dass die offene, wertschätzende und neugierige Beschäftigung mit der Glaubenswelt des Anderen und der Versuch, diese Glaubenswelt aus der eigenen Perspektive der Bekennenden zu verstehen, etwas Schönes und Verbindendes ist – und nicht die Kontamination mit Elementen des Unglaubens.
Wir müssen akzeptieren, dass es vielen Menschen schwer fällt, die Schönheit unseres Glaubens zu entdecken. Dass es ihnen – ähnlich wie Thomas – vielleicht nur gelingt, etwas als glaubwürdig wertzuschätzen, was sie mit ihren eigenen Sinnen erlebt und begriffen haben. Deshalb müssen wir als muslimische Gemeinschaft vorangehen, die Schönheiten zu entdecken, die sich aus den Quellen eines anderen Glaubens speisen. Vielleicht können wir dann erkennen und aufzeigen, dass diese Schönheit uns als die Geschöpfe eines einzigen, gemeinsamen Schöpfers eint. Und vielleicht entdecken wir dann auch, dass in den oben zitierten Bibelversen Jesus seinen Jüngern mit den Worten begegnet, mit denen wir uns täglich grüßen: Friede sei mit euch! (mk)