Jeden Tag, mehrmals täglich, verrichten wir unser Ritualgebet. Unzählige Male haben wir dabei die gleichen Koranverse rezitiert und werden sie immer wieder rezitieren. Die Eröffnungssure des Koran, die Fatiha, hat dabei große Bedeutung.
Sie ist das Fundament, der Kern unserer Ritualgebete. Immer wieder wiederholen wir die gleichen Worte, im stillen Gespräch mit Allah. Wir lauschen ihnen während der Rezitation durch den Imam. Die gleichen Verse markieren den Beginn und das Ende unseres Ritualgebets. Selbst wenn uns alles andere trennt, so vereinen uns die Verse der Fatiha im Moment des Gebets mit allen Muslimen dieser Welt.
Beim Besuch der heiligen Stätten des Islam in Medina und Mekka, in der großen Moschee am Grabmal des Propheten (s.a.s.) und beim Ritualgebet an der Kaaba aber auch während eines Gemeindegebetes in irgendeiner uns fremden Gemeinde hier in Deutschland ist dieses Gefühl am intensivsten – umgeben von Menschen, deren Herkunft wir nicht kennen, deren Alltag uns unbekannt ist, von deren Beruf oder Familie wir nichts wissen, deren Sprache wir nicht sprechen. Und doch beginnen wir alle unsere Ritualgebete mit den gleichen Worten der Fatiha: „al-hamdu li-llahi rabbi l-alamin“. Dank sei Allah, dem Herren der Welten.
In der islamischen Gelehrtentradition füllen die Auslegungen und Interpretationen der Fatiha, dieser wenigen Verse am Anfang des Koran, ganze Buchregale, ja ganze Bibliotheken. Jede einzelne Zeile, jeder Vers, jedes Wort ist unzählige Male beleuchtet, ausgelegt und seinem Bedeutungsgehalt nach untersucht worden. Auffällig ist, dass hinsichtlich der ersten Worte der Fatiha der Schwerpunkt dieser neugierigen Betrachtungen häufig auf dem Begriff „rabb“ liegt. „rabbi l-alamin“, der Herr der Welten.
Rabb ist eine der Eigenschaften, einer der Namen Allahs. Rabb ist der Entscheider und Lenker, der Herrscher und Richtungsweisende, der Gesetzmäßigkeiten Bestimmende, Versorgung Gewährende. In dieser Beschreibung spiegelt sich das monotheistische Verständnis des Islam wider, das den Dank, die Lobpreisung nur auf den einen Schöpfer, den einen Bestimmenden lenkt. Nur ihm gebührt der Dank des Menschen.
Viel faszinierender empfinde ich jedoch das, was diese wenigen Worte als den Gestaltungsraum dieses einen Herrn beschreiben, nämlich „alamin“, die Welten. Nicht nur die Welt, die wir wahrnehmen und von der wir uns umgeben fühlen. Nein, es sind die Welten im Plural.
In diesem koranischen Verständnis ist nicht nur die für uns sichtbare Schöpfung in ihrer Gesamtheit „die Welt“. In ihr sind viele weitere für uns sichtbare und unsichtbare Welten enthalten. Jeder Bestandteil, jeder Organismus, jede Schöpfungseinheit ist eine Welt für sich. So setzt sich in diesem Verständnis unsere Welt, in der wir existieren, aus unzähligen Welten zusammen. Wir selbst sind eine Welt für sich. Und in uns wiederum existieren wieder Welten für sich.
Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Organismus nimmt seine Umgebung anders wahr, hat andere Sinnesorgane, andere Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Kommunikation. Die Welt, wie sie sich einer Biene oder einer Katze oder einer Taube darstellt, ist eine andere Welt, als die, wie wir sie wahrnehmen und erkennen können. Selbst für jeden Menschen stellt sich die Welt unterschiedlich dar. Ja auch für uns selbst gilt: unsere Welt ist veränderlich. Je nachdem, wie wir uns fühlen, welche Gedanken uns beschäftigen, sehen wir die Welt, die uns umgibt, mit anderen Augen.
Beim oben beschriebenen Ritualgebet kommen also nicht bloß Gemeindemitglieder zum Gebet in einer Moschee zusammen – es sind ganze Welten, die sich Seite an Seite zum Gebet aufstellen. Die neben mir Betenden sind ihre eigenen Welten und zugleich Teil meiner Welt.
Allah ist also nicht nur Schöpfer einer einzigen Welt. Er hat eine Vielzahl an Welten erschaffen und erschafft in jedem Augenblick unserer Existenz immer wieder eine Vielzahl an neuen Welten. Mit jeder unserer Handlungen, mit jedem unserer Worte, können wir die Welt – oder mit diesem Verständnis jetzt präziser formuliert – die Welten verändern. Unsere eigene Welt und die unseres Nächsten, die Welten unserer Mitgeschöpfe, die Welten der gesamten Schöpfung.
Die entscheidende Frage ist: Wenn der Lob und der Dank für die Vielzahl dieser Welten dem einen Schöpfer, dem einen Herren, dem einen rabb gebührt, wie kann es uns dann am besten gelingen, unseren Dank für den Reichtum dieser Welten auszudrücken? Darüber müssen wir immer wieder aufs Neue nachdenken, wenn wir unsere Gebete jedes Mal mit den Worten „Dank sei Allah, dem Herren der Welten“ beginnen und beenden. (mk)