Der Judenhass in unserer Mitte

Als muslimische Gemeinschaft sprechen wir gern über unsere religiösen Tugenden, über den Islam als Rechtleitung für unser Leben. Selten sprechen wir aber über die Verirrungen, denen wir erliegen. Solche Verirrungen sind menschlich. Sie sind Ausdruck unserer Unvollkommenheit.

Aber wir dürfen sie nicht hinnehmen, wir dürfen sie nicht leugnen oder verharmlosen. Denn dann laufen wir Gefahr, dass Verirrungen nicht mehr als solche erkannt werden, ja sogar als ihr Gegenteil, nämlich als authentische muslimische Haltung missverstanden und über Generationen hinweg aufrechterhalten werden.

Zu den gravierendsten Verirrungen im Verständnis unseres Glaubens gehören zwei Phänomene, die wir als „Antisemitismus“ und „antichristliche Ressentiments“ beschreiben könnten. Aber eine solche Beschreibung wäre in sich bereits eine sprachliche Verharmlosung und damit ebenfalls eine Facette der Verirrung. Wir müssen ehrlich mit uns sein. Und wir müssen unsere Unvollkommenheiten schonungslos benennen. Nur so können wir ihnen ins Gesicht blicken und uns selbst zu Veränderungen bewegen.

Wir müssen uns eingestehen, dass es nicht nur an den Rändern unserer Gemeinschaft, sondern auch und gerade in ihrer Mitte, eine wachsende  Verachtung gegenüber dem Anderen, dem Fremden – in diesem Fall gegen Christen und Juden gibt. Es gibt unter uns einen Hass, den wir viel zu häufig verdrängen, relativieren oder vermeintlich sachlich zu begründen suchen. Weltgeschichtliche Ungerechtigkeit, Kriege und Verfolgungen dienen uns dazu, diese Verachtung und diesen Hass lebendig zu halten.

Damit fördern wir eine Gedankenwelt, in der Christen und Juden nicht mehr als unterschiedliche Menschen, als Individuen mit persönlichen Stärken und Schwächen wahrgenommen werden, sondern in denen „der Christ“ und „der Jude“ nur mehr als kollektive Schablonen herhalten, mit denen wir ganze Gemeinschaften negativ markieren.

Ein aktuelles Beispiel dieser Entmenschlichung hat sich erst jüngst in Berlin ereignet. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob der betroffene junge Mann tatsächlich jüdischen Glaubens war oder nicht. Oder ob es zuvor einen Streit gab oder nicht. Der Täter hat sein Ziel als Juden erkannt – und als Jude wollte er ihn treffen.

Der Angriff wurde gefilmt und die dokumentierten Szenen müssen jeden mitfühlenden Menschen bis ins Mark treffen. Sie ereignen sich nicht in einer Krisenregion, in einer von Gewalt und Exzessen verrohten Gesellschaft. Sie spielen sich in unserer Hauptstadt ab. Das heißt, jede und jeder von uns könnte sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden.

Da wird ein Mensch am hellichten Tag mit einem Gürtel von der Straße gepeitscht, weil er als Jude wahrgenommen wird. Das fühlt sich anders an als die vielen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte oder Moscheeeinrichtungen. Dort lassen die Täter ihren Vernichtungsphantasien im Schutz der Dunkelheit freien Lauf. Sie trauen sich mit ihrer Gesinnung nicht ins Licht. Sie verstecken sich, bleiben in der Anonymität ihrer Tat, weil sie im Grunde wissen oder zumindest ahnen, welchen Zivilisationsbruch sie begehen.

Der Täter hier will aber in aller Ausdrücklichkeit, in aller Deutlichkeit, unmissverständlich und für alle sichtbar einen Juden aus dem öffentlichen Leben hinauspeitschen.

Er spricht ihm seine Berechtigung, am Leben teilzunehmen, ab. Er spricht ihm seine Würde und seine Menschlichkeit ab. Weil er glaubt, er habe einen Juden vor sich.

Diese Tat hat damit eine (Un-)Qualität, die uns aus unseren üblichen Betroffenheitsritualen aufrütteln muss. Hier ist etwas Neues passiert: Die Verachtung, der Hass, der Wille, einen Menschen aus der Öffentlichkeit zu peitschen, ihn aus dem öffentlichen Leben zu tilgen, dieser Vernichtungswille schämt sich nicht mehr, sichtbar zu sein. Das ist eine erneute Verschiebung der Tabuzonen in unserer Gesellschaft. Wenn wir dazu schweigen, machen wir uns mitschuldig.

Gerade als muslimische Gemeinschaft müssen wir nicht mehr nur mit Worten, sondern endlich auch mit Taten zum Ausdruck bringen, dass ein solcher Hass keinen Platz in unserer Mitte haben darf. Jede Gemeinschaft, die meint, die göttliche Rechtleitung in Händen zu halten, muss es besser wissen, muss es klarer erkennen, dass ein solcher Hass nicht unwidersprochen bleiben darf.

Gerade als Muslime müssen wir erkennen, dass wir mit Christen und Juden durch das Vorbild Abrahams untrennbar verbunden sind. Ein Vorbild, das uns nicht durch konfessionelle Unterschiede trennt, sondern durch die unmittelbare Hingabe und Ergebenheit zu Allah eint.

Beeinflusst durch unsere menschlichen Schwächen und die Versuchungen des Hasses haben wir selbst dieses Vorbild Abrahams zum Anlass für Zwist und Eifersucht genommen und streiten darüber, ob er seinen Sohn Isaak oder Ismael hatte opfern wollen.

Über diesen Streit vergessen wir, dass es doch die Gnade Allahs ist, die uns in jedem Fall verbindet. Wir sind im Schatten Abrahams einander fest verbunden, wir sind einander anvertraut. Wir tragen wechselseitig Verantwortung dafür, dass unser Leib und Leben, unser Hab und Gut und unsere Gebetsstätten unversehrt bleiben.

Die Worte „Christ“ und „Jude“ drücken die Angehörigkeit zu zwei Gemeinschaften aus, denen Allah seine Offenbarung anvertraut hat. Wir dürfen nicht hinnehmen oder tatenlos zusehen, dass diese Begriffe zu Schimpfworten, zu Beleidigungen abgewertet werden.

Kein Christ und kein Jude dürfen sich in der Gegenwart von Muslimen unsicher fühlen oder Sorge um ihr Wohl haben. Es ist unsere Aufgabe und Verantwortung als Muslime, dass sich Christen und Juden nirgends sicherer und behüteter fühlen, als in unserer Nähe. Denn wir sind die Nachkommen von Brüdern. Wir sind Verwandte einer gemeinsamen Offenbarung.

Etwaiges Unrecht, das wir beklagen, darf uns nicht daran hindern, uns gemäß den Worten Allahs rechtschaffen und gerecht zu verhalten. Und wenn wir als Muslime irgendeine Überlegenheit für uns reklamieren wollen, dann gerade diese, dass wir geduldig mit gutem Beispiel vorangehen, um unsere Gemeinschaften zu versöhnen und zwischen uns Gerechtigkeit und Respekt gedeihen zu lassen. (mk, ab, as, eg, ek, ns, sbk)

(Anmerkung der Redaktion: Dieses Freitagswort knüpft an das Freitagswort vom 15.09.2017 an. Die dortigen Gedanken und Worte werden hier nochmals aufgegriffen und im Licht der jüngsten Ereignisse aktualisiert.)