Die Gefährten des Propheten (s.a.s) kannten das Phänomen der Flucht nur zu gut. Drei Mal mussten die ersten Muslime in Mekka vor der Unterdrückung durch ihre eigenen Stammesbrüder fliehen. Zwei Mal brachen kleinere Gruppen von Muslimen in das christliche Abessinien auf. Es war der christliche König Nedschaschi, der ihnen dort Zuflucht gewährte. Und schließlich verließ fast die gesamte Gemeinde Mekka in Richtung des damaligen Yasrib. Als einer der Letzten brach der Prophet selbst auf.
Seine Flucht aus Mekka und seine Auswanderung nach Medina haben für uns eine so große Bedeutung, dass dieses Datum zum Beginn der muslimischen Kalenderrechnung wurde. Nach und nach kamen hunderte Muslime als Glaubensflüchtlinge in diese Stadt. Eine staatliche Fürsorge gab es nicht, auch keine Zeltlager und Sammelunterkünfte. Aber es hatte seinen Grund, dass diese Stadt später ehrenvoll nur noch als “die” Stadt des Propheten gelobt werden sollte, als Medina.
Auf diese “Flüchtlingskrise” in den Jahren nach 622 n.Chr. geht unter anderem der Vers 9 der Sure Haschr(59) ein:
“Und die vor ihnen (in Medina) und im Glauben ihre Heimat fanden, lieben die, die als Auswanderer zu ihnen kamen.
Sie finden in ihrem Inneren kein Bedürfnis nach dem, was jenen gegeben wurde,
und stellen sich selber hintan, selbst wenn bei ihnen Kargheit herrscht.
Wer bewahrt wird vor seinem eigenen Geiz, der gehört zu jenen, denen es wohlergeht.”
Es waren die neuen Muslime in Medina, die mit den Neuankömmlingen ihr Dach, ihr Brot, ihre Datteln und ihr kostbares Wasser teilten. Einen allgemeinen Wohlstand gab es in der Stadt nicht. Jene die gaben, hätten nach heutigen Verhältnissen auch selbst nehmen können. Die Neuankömmlinge wurden aber nicht einfach nur toleriert, auch der Begriff Respekt käme zu kurz. Sie wurden geliebt, nicht mit Neid und Missgunst bedacht. Am Ende war es unter anderem gerade dieser Zusammenhalt in der Not, der aus einander bisher völlig fremden Menschen eine Gemeinschaft formte.
An die Geschichte der Verbrüderung von Aufnehmenden und Geflüchteten in Medina erinnern wir uns gerne. Sie gibt uns Zuversicht, sie zeigt uns gelebte Barmherzigkeit. Und der Flüchtling selbst erinnert uns gerade auch an den Propheten, an seine Gefährten, an ihr Leid und ihre Flucht. Doch ist es genug, sich nur zu erinnern?
Wenn wir uns jetzt kurz vor dem Gebet in der Moschee umschauen, wir sehen viele neue Gesichter. Viele Menschen, die neu zur Gemeinde gestoßen sind. Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, aber auch Nordafrika und dem Balkan. Menschen die fliehen mussten, vor Krieg, Hunger und Zerstörung, aber auch vor erbarmungsloser Armut. Die oft abfällig verwendete Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtling“ lässt uns nicht ansatzweise nachempfinden, welche Verzweiflung es bedeuten muss, die eigene Familie nicht ernähren zu können.
All diese Menschen sind neu in unseren Gemeinden angekommen, aber haben wir sie auch umarmt, wie die Ensar, die Helfer in Medina, es mit den Muhadschirun, den Ausgewanderten aus Mekka taten?
Dabei geht es nicht einfach nur um das Kümmern und Helfen. Es geht um die Aufnahme dieser Menschen in unsere Gemeinden und unsere Herzen. Es geht darum, ihr Leid zu lindern, indem wir sie an unserer Freude teilhaben lassen. Es geht darum, sie nicht als Gäste zu sehen, sondern als Schwestern und Brüder, die ganz selbstverständlich dazugehören. Nicht einfach nur dulden sollen wir sie, wir sollen sie lieben. Denn nur darin liegt am Ende unser aller Wohlergehen (Haschr, 9). (ek)