Hanau

Die Angehörigen der Opfer von Hanau werden den Rest ihres Lebens ohne ihre Liebsten verbringen müssen. Auf die Frage nach dem „Warum?“ werden sie keine Antwort finden, die ihnen Trost verschafft.

Denn die Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ der Anschläge von Hanau ist so simpel wie unerträglich. In unserer Gesellschaft gibt es in weiten Teilen die Überzeugung, dass bestimmte Gruppen von Menschen, anderen Gruppen von Menschen überlegen seien. Das ist der Nährboden, auf dem dieser erste Keim der Überlegenheitsvorstellung heranwächst bis er letztlich Früchte der Verachtung, der Entmenschlichung, des Hasses und schließlich der Tötungsrechtfertigung trägt.

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Gott gibt es nicht

Eines der zentralen Themen unseres Glaubens ist die Frage nach der Natur, nach der Existenz Gottes. Oftmals wird diese Thematik in die Sphäre des Akademischen, des Theoretischen verschoben. Eine Befassung mit den vielen Ansichten und Meinungen zu dieser Frage findet in der alltäglichen Glaubenspraxis unserer Gemeinden kaum statt. Dort und auch in der höchstpersönlichen Glaubenswirklichkeit unseres Alltages finden wir vielmehr das wieder, was den Raum der ausbleibenden Befassung mit diesem Thema ausfüllt – eine stetig zunehmende Personalisierung und Instrumentalisierung Gottes: 

Häufig hören wir in Predigten oder Ansprachen gegenüber der Gemeinde Formulierungen wie: „Das sind nicht meine Worte, das sind die Worte Gottes!“ Oder „Das verlangt Gott von euch!“ Oder „Gott will, dass ihr …“

Ähnlich häufig begegnen uns Predigten oder Ansprachen – insbesondere auch in der Jugendarbeit unserer Gemeinden – in denen eine konkrete Vorstellung von Gott und dem Tag der Rechtfertigung dazu dient, Auffassungen und Vorstellungen des in jenem Augenblick Redenden zu legitimieren. Manch einer verfällt in tiefe Angstpädagogik und zeichnet das Bild eines rächenden Gottes, eines bilanzierenden Gottes, der fast schon wie ein Untergebener seiner selbst nach dem Betrachten von vermeintlichen Sünden- oder Tugendregistern zu einer unumstößlich festgelegten Entscheidung zwischen Himmel oder Hölle gezwungen zu sein scheint.

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Niemandes Richter

Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Wiederholen wir diesen Satz, damit er sich uns unausweichlich aufdrängt: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Versuchen wir, diesen Satz auf all seinen Bedeutungsebenen zu verstehen und zu akzeptieren: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. 

Natürlich gilt dieser Satz auch in seiner umgekehrten Aussage: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. Auch in dieser Form verkörpert dieser Satz eine wichtige Erkenntnis, die wir uns nicht häufig genug bewusst machen können: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. 

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Der muslimische Imperativ

Traditionen sind uns wichtig. Wir legen wert darauf, dass unsere Gepflogenheiten, Bräuche und überlieferten Vorstellungen befolgt werden. Wir bewahren unsere Handlungs- und Denkmuster, also all jenes, das nicht angeboren ist, als Grundsubstanz unserer Identität.
Für soziale Gruppen in der Situation der Minderheit fungiert die Traditionsbewahrung und -pflege als wichtiger Träger von Identität, ja geradezu als identitätsstiftend. Für Gruppen in der gesellschaftlichen Rolle der Mehrheit vermittelt die Vorstellung von Tradition und ihrer Bewahrung gleichsam die Definition der eigenen Kultur.

Gerade durch die Bewahrung, die Beständigkeit von Denk- und Handlungsmustern transformiert sich eine personelle Gruppe hin zu einer Kultur. In beiden gesellschaftlichen Rollen ist diese Form der Kulturwerdung so wichtig, dass beide stets in der Furcht davor leben, die eigene Kultur könne aufgebrochen, verwässert, also verändert und damit geschwächt werden.

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Der Tanz um das goldene Ich

Der Mensch neigt dazu, sich abzugrenzen. Es ist aber mehr als ein Revierinstinkt, der bei vielen Geschöpfen in der Natur zu beobachten ist. Es geht dabei weniger um die Markierung eines Territoriums, welches durch Inbesitznahme und Verteidigung gegenüber Konkurrenten den eigenen Fortbestand sichern soll. Gleichwohl wir in dieser Beschreibung durchaus auch die zerstörerischen Ideologien um kollektiven „Lebensraum“ erkennen können, ist hier ein anderes Phänomen gemeint.

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Einheit und Einigkeit

Ein weiteres Mal haben wir gestern den Tag der deutschen Einheit gefeiert. Wie bei allen ritualisierten Formen des Gedenkens sollten wir uns auch anlässlich dieses jährlich wiederkehrenden Datums danach befragen, was wir eigentlich feiern.

Die Überwindung der Teilung Deutschlands ist zweifelsohne ein historisches Ereignis. Aber der Tag der deutschen Einheit muss uns für die Zukunft mehr bedeuten, als die völkerrechtliche Wiedervereinigung von Gebietskörperschaften. Denn heute erkennen wir viel deutlicher als noch vor 30 Jahren, dass die Wiedervereinigung der Menschen noch längst nicht erreicht ist. Viel zu sehr dominieren die Vorurteile übereinander in Ost und West, als dass von einer Einheit der Menschen die Rede sein kann.

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Werden und Sein

Es ist das Jahr 1984. Los Angeles. Olympische Spiele. Das Finale der Judo Wettkämpfe der Männer in der offenen Klasse. Auf der Judomatte steht der Ägypter Mohamed Ali Rashwan, bereit als erster afrikanischer Goldmedaillengewinner bei Olympischen Spielen in die Geschichte des Judo-Sports einzugehen. Sein Gegner in diesem Finale ist einer der erfolgreichsten japanischen Judoka: In seiner etwa 15 Jahre dauernden Wettkampfkarriere hat er über 500 Kämpfe gewonnen. Seit 1977 bis zu seinem Rücktritt 1985 wird er in internationalen Wettkämpfen unbesiegt bleiben und 203 Kämpfe gewonnen haben – Yasuhiro Yamashita gilt bei diesen Olympischen Spielen als unbesiegbar.

Was Yamashita bis zu diesem Finale versucht hat, vor seinen Gegner zu verbergen: Im Vorrundenkampf gegen Arthur Schnabel hat er sich eine schwere Verletzung in der Wadenmuskulatur zugezogen. Die Verletzung ist so schwer, dass sie nun vor diesem Finalkampf unübersehbar geworden ist. Yamashita betritt die Judomatte mit langsamen Schritten, humpelnd. Sein rechtes Bein zieht er für alle sichtbar nach. Er kann es kaum mit seinem Gewicht belasten, geschweige denn im Kampf einsetzen. Seine Niederlage scheint gewiss, wenn sein Gegner Rashwan auch nur eine Kampftechnik gegen dieses verletzte Bein Yamashitas anwendet.

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Was guckst du?

Es ist überliefert, dass unser Prophet (s.a.s.) während einer Freitagspredigt zu seiner Gemeinde über die Tekbir, also den Ausruf „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“), sprach und sie mit folgenden Worten ermahnte: „[…] Warum ruft ihr die Tekbir mit lauter Stimme? Ihr betet nicht zu einem Tauben oder einem Verirrten. Im Gegenteil: Ihr betet zu As-Semi, zu dem, der alles hört. Und zu Al-Basir, zu dem, der alles sieht. Der, zu dem ihr betet, ist euch näher als der Hals des Tieres, auf dem ihr reitet. […] Soll ich dich ein Wort aus den Schätzen des Paradieses lehren? Dieses Wort lautet „La havle vela kuvvete illa billah!“ (Die Stärke und die Kraft sind allein Gottes)

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Die Illusion von Macht

Unsere Gegenwart ist geprägt von der Faszination, die unsere Möglichkeiten uns vermitteln. In dem Ausmaß, in welchem wir das Spirituelle, das buchstäblich Unbegreifbare, das Nichtkörperliche, das Transzendente aus unserem Leben und unserer unmittelbaren Orientierung verdrängt haben, in dem Maße hat das Körperliche, das Materielle, die Anhäufung des Konkreten Bedeutung für und in unserem Leben eingenommen.

Wir haben uns von der Vorstellung entfernt, dass die Belohnung im Jenseits uns in der Gestalt des Überflusses an Erkenntnis und Wissen versprochen wird. Sinnbildlich spricht der Koran von der Quelle Kevser, aus der wir unendliche Male werden schöpfen dürfen. Das Bild des auch dann nicht wirklich greifbaren, des fluiden und verrinnenden Wassers ist uns zu einer Zumutung geworden.

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Allein mit dem Tod

Diesen Freitag geht es um ein sehr persönliches Thema. Ein Thema, das uns alle angeht, uns alle betrifft. Die Gedanken daran flackern von Zeit zu Zeit in jedem von uns auf. Sie beschäftigen uns eine Weile und dann verdrängen wir sie wieder. Es ist ein Thema, das uns daran erinnert, was es bedeutet, zu leben – und sich seiner Vergänglichkeit bewusst zu sein. Wir wissen um die Endlichkeit unseres Lebens, auch wenn wir uns in besonderen Momenten, häufig in Glücksmomenten voller Euphorie und Überschwang, nahezu unsterblich fühlen. 

Wieviel Lebenszeit uns jeweils bemessen ist, wissen wir in der Regel nicht. Manchmal reißt der Tod geliebte Menschen mitten aus unserem Leben. Manchmal durchleben wir als Betroffene oder als Angehörige die schwere Prüfung von Krankheit und Leid im Angesicht des bald gewissen Todes. 

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