Das Fest der Nähe

Wie jedes Jahr feiern wir auch diesmal das Opferfest mit unseren gewohnten Ritualen. Dazu gehört die Schlachtung eines Opfertieres und das Verteilen eines Teils des Fleisches. 

Dieses Ritual ist buchstäblich so körperlich präsent und prägend, dass wir nahezu überwältigt von seiner physischen Kraft uns zunehmend von der ihm innewohnenden und in der Offenbarung beschriebenen Bedeutung entfernen. 

So heißt es (22, 37): „Weder ihr Fleisch, noch ihr Blut werden Allah erreichen, aber ihn erreicht die Gottesfurcht von euch. So hat Er sie euch dienstbar gemacht, damit ihr Allah als den Größten preist, dass Er euch rechtgeleitet hat. Und verkündet frohe Botschaft den Gutes Tuenden.“

Was mag diese Botschaft bedeuten? Im Koran erfahren wir auch, dass Gott uns näher ist als unsere Halsschlagader. Dass er stets mit uns ist, egal wohin wir gehen oder was wir auch tun. Weshalb brauchen wir dann noch einen Ritus, mit dem wir Allah erreichen sollen? 

Die Nähe Gottes zu uns ist eine Gewissheit, die uns die Offenbarung verkündet. Aber bedeutet dies auch, dass wir Gott nahe sind? Die Beziehung zwischen uns und Gott ist keine Beziehung der gleichen Eigenschaften. Er ist der Allbarmherzige, der Allwissende, der Erschaffende und der das Leben Nehmende. Wir sind unvollkommen. Wir können die Nähe zu Gott aus unserer Perspektive nicht durch Sinneseindrücke empfinden oder durch Worte postulieren. Wir sind dazu verpflichtet, täglich diese Nähe durch unser Handeln herzustellen oder zumindest ihr nachzuspüren. 

Mit dem Ritual des Opferfestes hilft uns Gott dabei, diese Nähe in verschiedenen Beziehungen herzustellen. Zunächst ganz unmittelbar zu dem Lebewesen, das wir töten.

Jede und jeder, der oder dem es möglich ist, sollte im Moment des Schlachtens des Opfertieres anwesend sein. Und wenn möglich dabei das Tier berühren, es festhalten, wenn es durch Fachleute durch den Halsschnitt getötet wird. Diese Nähe darf kein Ringen, kein Kampf mit dem Tier sein. Es ist behutsam zu behandeln, vielleicht Tage zuvor persönlich zu füttern, zu pflegen. 

Ich habe in meiner Jugend diese Momente miterlebt. Ich war dabei, wie ein Opfertier auf dem Viehmarkt erworben und auf einem Pferdekarren in den Innenhof unseres Hauses in der Türkei verfrachtet wurde. Das Schaf wurde dort mehrere Tage umsorgt und gepflegt, getränkt und gefüttert. Am Tag der Hausschlachtung am ersten Feiertag lief es ohne geführt zu werden an den Ort der Schlachtung, setzte sich unmittelbar neben die Grube, in der das Blut aufgefangen werden sollte und blickte uns, die wir um das Tier herum standen, mit einer Ruhe an, die ich niemals vergessen werde. 

Der Anblick der Schlachtung, die körperliche Nähe zum Opfertier schafft eine tiefe Demut gegenüber dem Leben, das wir nehmen, um uns zu ernähren. Das Ausweiden und Zerlegen des Tieres verdeutlicht uns die Ähnlichkeit unserer Anatomie, mit vergleichbaren Organen, Blutgefäßen, Muskeln und Knochen.

Diese Nähe sensibilisiert uns für die Haltungs- und Zuchtbedingungen, für die Fragen der Verschwendung von Lebensmitteln. Uns wird bewusst, dass wir keine industriellen Produkte verzehren, sondern Lebewesen. Der Verantwortung ihnen gegenüber, werden wir in unseren modernen Zeiten vielleicht weniger gerecht, als zu Zeiten, in der jeder für das Fleisch, das er verzehren wollte, auch selbst töten musste. 

Das Opfertier sorgt für gesellschaftliche Nähe. Sein Fleisch wird an Freunde und Verwandte verteilt. Ein Anlass, der uns jährlich daran erinnert, wie wenig wir uns um einander kümmern oder wechselseitig unsere Nähe suchen. Die Vergänglichkeit des Opfertieres ermahnt uns, uns bewusst zu machen, wie vergänglich auch wir sind und es vielleicht kein nächstes Opferfest für uns oder unsere Freunde und Verwandte geben wird, an welchem man sich wieder treffen könnte.

Das Fleisch soll auch an Bedürftige verteilt werden. Über den Tod des Opfertieres schafft dieses Ritual eine Nähe zu Menschen, deren Existenz und Not wir im Alltag ausblenden. Wir sind in einem Prozess der sozialen Desintegration verfangen, in dem jeder nur sich selbst der Nächste ist, in welchem Armut und wirtschaftliche Not zu einer persönlichen Schuld und Schande geworden sind. Das Opfertier überwindet diese Distanz und diese Werturteile, indem es uns die Bedürftigkeit als etwas erkennen lässt, das wir durch Solidarität und das Teilen unseres persönlichen Überflusses lindern oder gänzlich aufheben könnten. Armut ist nicht das Schicksal oder die Schuld der Betroffenen. Sie ist die Folge unseres wirtschaftlichen Handelns und der Prioritäten, die wir darin setzen. 

Das Opfertier schafft eine spirituelle Nähe und Unmittelbarkeit, die wir in der Alltäglichkeit unseres Glaubens zuweilen aus den Augen verlieren. Es schafft durch seinen Tod die Nähe zu Abraham. Zu seiner Glaubensstärke, zu seiner Ergebenheit. Aber auch zu der Frage, was wir empfinden würden, hätten wir seine Prüfung zu bestehen? Ist es überhaupt etwas Gutes, zu einem solchen Opfer bereit zu sein? Seinen eigenen Sohn zu opfern, weil Gott es verlangt? Wie barmherzig kann ein Gott sein, der solch eine Tat verlangt? 

Unser jährliches Opfer soll uns die Nähe spüren lassen, die Abraham zu Gott empfand. Nur diese Nähe und Zuversicht kann ihn doch hoffen lassen, dass Gott das Schicksal so wenden wird, dass es nicht zum Vollzug des versprochenen Opfers kommen muss.

Gleichzeitig ist es unsere heutige und tägliche Prüfung, uns zu hinterfragen, was jene Prüfungen sind, die Gott von uns verlangt und diese zu unterscheiden von den Deutungen und Erwartungen, die aus uns selbst entspringen, die wir aber Gott in den Mund legen. Sind unsere Taten immer Ausdruck einer Ergebenheit in Gott? Oder handeln wir auch eigensüchtig und von persönlichen Motiven getrieben? Folgen wir Gott oder betrügen wir uns und andere mit Gott? 

Das Opfertier verbindet uns ganz intensiv auch mit Ismail. Es schafft eine Nähe zu seinen Gedanken und Empfindungen, die uns nicht fremd bleiben dürfen. Was ist das für ein Vater, der Hand an den eigenen Sohn legen will? Was ist das für ein Gott, der dies von einem Vater verlangt? 

Es gibt ein faszinierendes Gemälde des Künstlers Caravaggio aus dem 16. Jahrhundert, welches in den Uffizien in Florenz hängt. Darin ist die Szene der Opferbereitschaft Abrahams dargestellt. Er hält in der rechten Hand das Messer, das er zum Hals seines Sohnes führen will. Gerade im Augenblick dieser kraftvollen Bewegung greift ein Engel in seinen Arm und weist mit der anderen Hand auf das Opfertier, das in Gestalt des Widders am Bildrand erscheint. Bemerkenswert ist die Darstellung des Sohnes. Sein Kopf wird durch die linke Hand des Vaters brutal zu Boden gedrückt. Der Daumen Abrahams greift in die Wange des Sohnes, seine Finger umschließen fest den Nacken. Der Sohn sucht verzweifelt den Blickkontakt zum Vater, als ob dies das unmittelbar Bevorstehende verhindern könnte. Der Mund ist aufgerissen zu einem qualvollen Schrei. 

Keine Spur von Zuversicht oder Hoffnung oder Gottvertrauen. All das wäre üblich in der religiösen Darstellung dieses Moments. Caravaggio macht uns aber durch seine Ausführung dieser Szene deutlich, dass die Prüfung mit Gewalt und Verzweiflung keine Kleinigkeit ist. Es gibt so viele qualvolle Schreie und flehende Hilferufe, die wir in unserem Alltag überhören, weil sie unsere Bequemlichkeit stören. Wir führen vielleicht kein Messer zum Hals eines Menschen. Aber wir wollen auch nicht der Engel aus Caravaggios Gemälde sein, der in den Arm des Schicksals fällt, wenn es die Köpfe der Menschen in die Wellen des Mittelmeeres drückt. Wir schlagen niemandem das Messer aus der Hand, der andere quält, misshandelt und tötet, nur weil er die Macht dazu hat. 

Die Nähe zu all diesen Fragen stellt das Opfertier her, wenn wir das Messer zu seinem Hals führen. Das Opferfest ist damit nicht bloß ein Schlacht- und Grillfest. Es stellt uns jedes Jahr immer wieder die Frage, ob wir zu denen gehören, die Gutes tun? Zu jenen, die damit die Nähe zu Gott suchen? Oder ob wir wieder nur Fleisch verzehren?