Ende des Ramadan

Wieder neigt sich der jährliche Fastenmonat seinem Ende zu. Und wieder lässt er uns erleben, wie die Herausforderungen, die er mit sich bringt, uns fast zur Gewohnheit werden. Wie scheinbar Unmögliches sich in ein alltägliches Ritual verwandelt und uns vor Augen führt, wie trügerisch unsere Gedanken und Vorstellungen über uns selbst sein können. Kaum sind wir in der Lage, hinter diesen Vorhang unserer Selbstwahrnehmung zu blicken, endet der Ramadan in Tagen der Freude, der familiären Verbundenheit und in vielfachen freundschaftlichen Begegnungen. Und wir fallen zurück in unser eingeübtes Verhalten und der Ramadan verblasst wieder für 11 Monate zu einer fernen Erinnerung der Überwindung von Hunger und Durst.

Dabei führt uns der Ramadan gerade in seiner letzten Phase, in seinen letzten Tagen deutlich wie nie die Macht der Veränderung vor Augen – und die Illusion von Beständigkeit. In den letzten Tagen des Fastens, wenn wir feststellen, mit wie wenig an Nahrung und Wasser wir auskommen, wie wenig es eigentlich bedarf, um uns zufrieden zu stellen, ahnen wir, dass die Beständigkeit unseres Alltages eigentlich nichts Statisches ist, sondern die schleichende Gewöhnung an Zustände und Verhaltensweisen.

Es sind Veränderungsprozesse, die langsam, fast schon träge ablaufen und uns in ein Korsett der vermeintlichen Normalität zwängen, uns dabei so gemächlich einschnüren, dass wir diesen Zustand der Enge, der Selbsteinengung als Sicherheit und Verlässlichkeit missverstehen. Unsere Normalität ist nichts anderes, als das Sich-Abfinden mit den Zuständen, die wir vorfinden und die wir mit unserer Trägheit, die wir in unserer religiösen Gemeinschaft all zu oft mit Loyalität, Vertrauenswürdigkeit und Verbindlichkeit verwechseln, stetig verfestigen.

Wir nehmen diese langsame Veränderung nicht wahr. Wir erkennen nicht, wie sich in unserer Gemeinschaft Zustände verändern, weil wir uns in ihnen eingerichtet haben und sie nicht zu hinterfragen bereit sind. Das Verständnis von Gerechtigkeit weicht immer mehr dem Gedanken der Nützlichkeit, die Suche nach Wahrheit weicht der Anpassung an den Willen der politisch Mächtigen. Die Sorge um den Nächsten weicht der Gleichgültigkeit bis hin zur Mitleidlosigkeit, der Reichtum der Vielfalt weicht der gedanklichen, ästhetischen und spirituellen Einöde des Banalen. Nur weil das Banale uns als normal erscheint.

Wir lassen unsere religiöse Gemeinschaft zu dieser Gedankenwüste werden, in der nichts für uns oder andere gedeiht. In dieser immer karger werdenden emotionalen Steppe entgehen wir dem traurigen Blick auf unsere inneren Zustände nur noch durch den scharfen Blick, den wir auf unseren Nächsten werfen – ob er richtig betet, ob er überhaupt fastet, ob sie ein Kopftuch trägt, mit wem er Umgang pflegt, mit wem sie sich trifft, ob die Sitzordnung bei Veranstaltungen eingehalten wird.

Eine Gemeinschaft, die ihren Glauben als eine Frage des Protokolls lebt und nicht als eine des Gewissens, hat Angst, zu erkennen, in was sie sich verändert hat. Es verwundert nicht, dass jährlich eine Studie veröffentlicht wird, die misst, in welchen Ländern die islamischen Lehren aus Koran und Sunna am deutlichsten praktisch gelebt werden. Unter den ersten 40 Ländern ist kein einziges mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zu finden.

Der Ramadan setzt dem Blick auf diese Zustände der muslimischen Selbstaufgabe die Erkenntnis entgegen, dass eine akute Veränderung möglich ist. Die Gewissheiten von gestern können heute hinterfragt werden. Die herrschende Ansicht einer selbsternannten Obrigkeit kann von heute auf morgen infrage gestellt werden. Wenn wir uns selbst überwinden können, unsere elementarsten Begierden überwinden können, ist kein Zustand unveränderlich.

Wenn wir uns dazu überwinden, den Blick auf unsere Zustände zu richten, uns selbst zu hinterfragen und unser Denken und Verhalten zu ändern, kann es uns gelingen, eine spirituelle Landschaft, die von anderen nur als unwirtlich, abstoßend, bedrohlich empfunden wird, zukünftig für alle in das zu verwandeln, was sie für uns zu sein verspricht – nämlich ein Ort und ein Zustand der Freude, des Friedens, der Schönheit und der Geborgenheit.

Auch das ist die Botschaft des Ramadan: Bevor sie auf Festtagstafeln wieder bis zur Unsichtbarkeit verschwindet, sollten wir uns fragen, worauf wir verzichten müssen, worauf wir uns konzentrieren müssen, wessen wir uns enthalten müssen, was der Gegenstand unseres täglichen spirituellen Fastens sein muss, um die Zustände, die uns umgeben, zum Positiven zu verändern.

Diese Suche wird sicher nicht mühelos und frei von Selbstüberwindung sein. Aber das verspricht uns der Ramadan in keinem Jahr.