Silvesterparanoia

Auch dieses Jahr wäre es zum Ende des kalendarischen Jahres eine Gelegenheit gewesen, aus muslimischer Sicht auf die zurückliegenden Monate zu Blicken, die vergangenen Ereignisse aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu kommentieren und die kollektiven Hoffnungen für das bevorstehende Jahr für alle Menschen in diesem Land positiv zu formulieren.

Viele Muslime tun das sicher auch. Aber mindestens ebenso viele, allen voran innerhalb unserer organisierten Strukturen der muslimischen Gemeinschaften, sind mit etwas anderem beschäftigt. Dort entfaltet sich eine besondere Form der Kreativität, die auf verschiedenen Ebenen offenbart, wie es um die muslimische Seele vielfach bestellt ist.

Jedes Jahr zum 31.12. zeigt sich, wie instabil häufig die eigene muslimische Glaubenswelt ist und wie jenseits der vielen öffentlichen verbandlichen Bekundungen der Beheimatung von Muslimen in Deutschland und der Forderung nach Normalität von muslimischer Zugehörigkeit in diesem Land unsere muslimischen Gemeinschaften noch unter einer tiefen, selbstverursachten Unaufrichtigkeit leiden. 

Die Instabilität unseres eigenen Glaubens rührt von unserer Gewohnheit her, unseren Glauben zuvörderst als einen rein praktischen Glauben zu leben. Wir betrachten und leben unseren Glauben als einen Glauben des Ritus, des rituellen Brauchtums, der pseudoreligiösen Tradition. Wir haben unseren Glauben zu einem Vehikel der nachahmenden, äußeren folkloristischen Kultur werden lassen. Unser Glaube wird von uns lediglich als äußere Gestalt präsentiert. Folglich nehmen Nichtmuslime unseren Glauben auch als eine bloß sichtbare, kulturelle Fremdheit wahr. Als unbekannte Gebräuche. Woran wir glauben, können wir Muslime vielfach nicht beschreiben, ohne auf äußere, praktische Riten zurückzugreifen.

Mit dem gleichen, rein formalen, rein auf Äußerlichkeiten fokussierten Blick nehmen wir die uns umgebende nichtmuslimische Gesellschaft wahr. Sehen wir dort Gebräuche und Riten, die wir nicht mit unserem Glauben vereinbaren können, wenden wir unseren Blick verächtlich ab und fällen unser endgültiges Unwerturteil.

So ist der Silvesterabend für viele Muslime, gerade und vor allem in den verbandlichen Gemeinschaften, eine Nacht der vielfachen Sünde, des exzessiven Alkoholkonsums, der sexuellen Ausschweifung, der moralischen Verwahrlosung und damit eine symbolische Nacht der kollektiven Lasterhaftigkeit dieser Gesellschaft.

Diese missbilligende bis hin zu verachtende muslimische Haltung kann sich noch nicht mal die eigene göttliche Offenbarung zum Vorbild nehmen und sich ihre neutrale Gelassenheit im Augenblick religiöser Unvereinbarkeiten aneignen: „Dein Glaube dir und mein Glaube mir.“

Im Gegenteil werden merkwürdige Alternativen angeboten, damit die muslimische Jugend nicht den Verlockungen dieser Gesellschaft zum Opfer falle. Am 31.12. werden abends, bis nach Mitternacht Koranlesungen und religiöse Rezitationen in den Moscheen angeboten. Manche Gemeinden kommen gar auf die Idee, junge Muslime mit Unterhaltungsprogrammen mit mitternächtlichen Geschenkverlosungen zu ködern. Das muslimische Verbot des Glücksspiels scheint im Kampf gegen den Silvesterabend an Bedeutung zu verlieren.

Es werden vermeintliche historische Großtaten der muslimischen Urgemeinde kalendarisch auf den 31.12. fixiert, um sie jährlich wiederkehrend in dieser Nacht feiern zu können – obwohl der sonstige religiöse Kalender doch dem Mondlauf folgt.

Es herrscht ein Zwang, jede Feierlichkeit der nichtmuslimischen Außenwelt mit einem konstruierten muslimischen Anlass zu kontern und damit einen Wettbewerb der traditionellen, der rituellen Anziehungskraft zu veranstalten. Der eigene Glaube, reduziert auf einen Glauben der äußeren Praxis, muss mit allen anderen äußerlichen Praktiken konkurrieren können, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Es ist erstaunlich, dass in einem gesellschaftlichen Kontext, in welchem die muslimische Seele bereit ist, jede schlechte Karikatur als Verwundung religiöser Gefühle zu empfinden, diese alljährliche spirituelle Selbstentleibung, diese eigenhändige religiöse Aushöhlung nicht als tiefe Selbstverwundung empfunden wird. Empfindlicher als wir selbst mit dieser Haltung, kann man den Islam kaum entwerten.

Und auch gesellschaftlich ist diese Haltung der Ausdruck einer tiefen Unaufrichtigkeit. Wir wünschen uns Achtung und Respekt unserer religiösen Werte und Praktiken. Wir finden es erfreulich, wenn unsere religiösen Feierlichkeiten auch von Nichtmuslimen geachtet und geschätzt werden. Aber umgekehrt sind wir nicht in der Lage, über die äußere Form, die oberflächlichen Aspekte unseres kulturellen Zusammenlebens hinaus zu blicken und Gemeinschaft auch in den Momenten zu leben, in denen wir mit unseren Überzeugungen nicht vollständig übereinstimmen.

Was ist daran aus muslimischer Sicht verwerflich, einen kalendarischen Jahreswechsel zum Anlass zu nehmen, einander Glück und Gesundheit zu wünschen? Was ist daran schlecht, an die vergangenen gemeinsam erduldeten Widrigkeiten zu erinnern, all jenen zu Gedenken, die es schlechter getroffen hat als uns? Was daran ist unmoralisch, eine Nacht zum Anlass zu nehmen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die man zu oft und zu lange nicht mehr beachtet hat? Was ist daran unsittlich, gemeinsam Freude und Heiterkeit zu erleben?

Als Muslime können wir nicht mittrinken, aber wir können uns mitfreuen, gemeinsam Freundschaften beleben, Mitgefühl zeigen.

Das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft wird nicht funktionieren, wenn wir in den schönen, feierlichen Momenten des jeweils anderen nur Defizite sehen und nicht in der Lage sind, die Freude des anderen wenigstens zu einem Teil auch als Anlass zur eigenen Freude zu empfinden.

Wer glaubt, gegen die Tradition und die Gebräuche seiner nichtmuslimischen Umwelt eine ganze Nacht lang anbeten zu müssen, kann nicht erwarten, dass die Schönheit seines muslimischen Glaubens von dieser Umwelt wahrgenommen und wertgeschätzt wird.

Wer glaubt, seine Moscheen seien nicht Stätten der Einladung und Gelegenheiten zur gesellschaftlichen Annäherung, sondern nur Wagenburgen gegen einen Ansturm der Silvestersünden, der hat in eine falsche religiöse Zukunft investiert.

Wer glaubt, in einer vielfältigen Gesellschaft seien die Feierlichkeiten der anderen immer nur bedrohliche religiöse Verlockungen für die eigene Jugend, der lebt spirituell am falschen Ort und betreibt eine Selbstverwüstung.

Wer Freude nicht teilen kann, kann keine Gemeinschaft leben.

Frohes neues Jahr!