Niemandes Richter

Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Wiederholen wir diesen Satz, damit er sich uns unausweichlich aufdrängt: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Versuchen wir, diesen Satz auf all seinen Bedeutungsebenen zu verstehen und zu akzeptieren: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. 

Natürlich gilt dieser Satz auch in seiner umgekehrten Aussage: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. Auch in dieser Form verkörpert dieser Satz eine wichtige Erkenntnis, die wir uns nicht häufig genug bewusst machen können: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. 

Die Wiederholung dieses Satzes in beiden seiner Bedeutungsformen, ist von großer Dringlichkeit. Denn unsere Glaubenspraxis, unsere Glaubenstraditionen und die Art und Weise, wie wir Elemente unseres Glaubens leben und weitergeben, haben in vielen Facetten eine Gestalt angenommen, die das Gegenteil dieses Satzes verkörpert – und das tut uns nicht gut. Wir verzerren damit ganz wesentliche Kernaussagen unseres Glaubens und verbiegen ihn, bis er sich unserem Wohlbefinden anpasst und uns in unserer Selbstgewissheit nicht mehr stört.

Die Offenbarung, die uns zum stetigen Hinterfragen unseres Verhaltens anhalten soll, wird von uns in ihrer Intention ausgehöhlt, bis sie nur noch zu bestätigen scheint, was wir für richtig und falsch halten. Wir erkennen dabei nicht oder verdrängen, dass wir damit eigentlich nur uns selbst und einander mit Gott und seiner Offenbarung betrügen.

Dieses Phänomen beginnt mit einem ganz einfachen Trugschluss. Weil der Islam die letzte Offenbarungsreligion ist, weil er das Richtige vom Falschen trennt, weil er unsere Religion, also unsere Rückbindung zu Gott, vervollständigt, lassen wir uns sehr schnell dazu verleiten, zu glauben, diese Eigenschaften würden auch uns als Muslime beschreiben und unser Verhalten rechtfertigen. Dabei sind wir als Geschöpfe unseres Schöpfers eben nicht sein Abglanz, nicht sein Schatten auf Erden. Es sind nicht wir, die durch das Glaubensbekenntnis automatisch vollständig werden, vom Falschen zum Richtigen werden. 

Wenn es im Koran heißt, dass es an diesem Buch keinen Zweifel gibt, ist damit nicht gemeint, dass unser Verhalten als Muslime nicht angezweifelt werden kann, dass wir und alles was wir tun, nicht frei vom Zweifel der Verirrung bleibt. (s. Sure 2, Vers 2)

Wenn wir in unseren Glaubensquellen die Quellen des Guten und Makellosen erkennen, bedeutet dies nicht, dass unser Verhalten als Muslime aus sich heraus stets gut und makellos ist. Wir müssen uns davor hüten, in uns etwas Höhenwertiges zu erblicken, nur weil wir Muslime sind. Dieser Hybris, diesem Hochmut verfallen wir viel zu häufig und häufiger als wir es selbst erkennen. Dann schwingen wir uns im Nu zu Wächtern und Richtern des Glaubens auf und urteilen über andere und deren Verhalten. Wir messen, wiegen und befinden für nicht würdig, für abfällig oder sehr schnell für „nichtmuslimisch“. 

Eine solche Rolle des Richters über den Glauben und das Verhalten unseres Nächsten kommt uns Muslimen aber nicht zu. Eine solche Rolle kam selbst unserem Propheten (s.a.s.) nicht zu. Im Koran heißt es, dass er nicht als Hüter über jene gesandt wurde, die sich abwenden. Ihm oblag nur die Übermittlung der Botschaft. (vgl. Sure 42, Vers 48)

Wir aber, im Glauben, den rechten Glauben zu besitzen, fangen an, willkürlich zu urteilen. Wir fangen an, Unterscheidungen vorzunehmen, deren Grundlagen sich nicht aus der Offenbarung ergeben, sondern vielmehr Ausdruck unserer eigenen Befindlichkeit sind. Unser Verhalten zeigt sich an kleinen, harmlosen Beispielen, wie auch in ganz existenziellen Augenblicken.

Wir lehnen zum Beispiel ganz selbstverständlich den Verzehr von Schweinefleisch ab und konstruieren dafür Gründe, die so nicht der Offenbarung zu entnehmen sind und maßen uns dabei sogar an, ein Geschöpf Gottes, das mit seiner ganz eigenen, uns vielleicht noch verborgenen Bestimmung erschaffen wurde, als niederes Wesen, als widerwärtiges und dreckiges Tier zu verurteilen. Dabei ist uns lediglich aufgetragen, auf den Verzehr von Schweinefleisch zu verzichten, aber nicht über dieses Geschöpf zu urteilen. Wissen wir denn, ob in diesem Wesen nicht ein Segen für uns verborgen ist, dem wir durch seine Nutzung zum Verzehr nicht im Wege stehen sollen?

Oder unsere Vorstellungen von Moral und Anstand: Obgleich das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe für Männer und Frauen gleichermaßen gilt, ist unser Verhalten in dieser Frage von einer Doppelmoral geprägt, die sich durch nichts rechtfertigen lässt. Wir sind dazu bereit, den Männern unserer Gemeinschaft in dieser Frage jedes Fehlverhalten nachzusehen, zu relativieren, zu rechtfertigen oder zu entschuldigen.
Gleichzeitig scheuen manche von uns nicht einmal vor Gewalt und Mord zurück, wenn Frauen das gleiche Verhalten an den Tag legen. Die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Gleichwertigkeit, die bei solchen Fragen als Handlungsmaßstäbe in unserer Offenbarung zu finden sind, verdrängen wir und setzen an ihre Stelle unsere Vorstellungen von männlicher Dominanz, maskuliner Deutungshoheit über die Moral und willkürlicher Verfügungsgewalt über die Frauen. 

Und wir zögern keinen Moment, unser Verhalten mit Gott und seinen Geboten und Verboten zu rechtfertigen. 

Aber nichts, was wir tun, darf frei von Zweifeln sein. Denn wir sind unvollkommene, fehlbare Geschöpfe. Dass wir uns zum Islam bekennen, ändert nichts an dieser Eigenschaft und unserer Fehlbarkeit. Dass wir Muslime sind, ist kein Gütesiegel, das uns zeitgleich mit unserem Glaubensbekenntnis auf alle Zeit unveränderlich als gut und vollkommen prägt. Unser Bekenntnis ist nicht die Bestätigung unserer selbst als das Gute. Unser Glaubensbekenntnis beginnt vielmehr mit „La“, also einer Verneinung, einer Negation: Damit ist unser Glaube eine Verpflichtungserklärung auf Lebenszeit, jede unserer Handlungen anzuzweifeln und zu hinterfragen, ob sie dem Guten dient und dazu geeignet ist, jeden Tag unsere Unvollkommenheit ein winziges Stückchen zu überwinden.