Und geheiligt sei nicht die Nation

Muslime mit einem Migrationshintergrund aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung sind diesem Phänomen sicherlich schon begegnet. Ein religiös unterlegter Nationalismus, der das Islamverständnis in den Ländern eng umschlungen hat. Der Islam scheint gemäß dem nationalistischen Verständnis ohne Nation nicht zu funktionieren, das Dasein als authentischer Muslim nur in einer türkischen, arabischen, marrokanischen oder bosnischen Prägung möglich zu sein.

Und selbst hier in Deutschland treffen wir auf identitäre Vertreter dieser Haltung: Ein guter Muslim kann nur der sein, der sich seines Türken-, Araber- oder Bosniertums bewusst ist und dies bewahren kann. Die Religion wird zu einer nationalen Sache, die unbedingt mit der Herkunftsnation verknüpft werden muss.

Kann man dann überhaupt hier in Deutschland Muslim sein? Kann es den Islam ohne eine nationale Einfärbung geben? Gibt es den Islam immer nur in Kombination mit einem nationalistischen Bewusstsein, mit einem übersteigerten Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der Nation?

Als Begründung für diese “notwendige Verknüpfung” wird zumeist auf die Tradition verwiesen, auf ein überliefertes Verständnis von Religion, zu dem die Nation ohne wenn und aber dazu gehört. In dieser Form hat man die Religion von den Vorausgegangen gelernt, so muss sie auch weitergelebt und -gegeben werden.

Aber, inwieweit kommt der Begriff der Nation überhaupt in der islamischen Tradition vor? Menschheitsgeschichtlich ist der Begriff sehr jung, keine 300 Jahre alt. Der Prophet und seine Gefährten kannten den Begriff der Nation noch nicht einmal. Und selbst der vermeintliche Prophetenausspruch (Hadis), der gern als Untermauerung des “islamischen Nationalismus” angeführt wird, “Hubbul-Watan Min al-Imaan” (“Die Liebe zur Heimat/Vaterland ist aus dem Glauben”) ist nichts anderes als eine Mawzu-Überlieferung, eine gefälschte Überlieferung. Geheiligt ist sie also nicht, die Nation.

Wo ist zum Beispiel aus der Perspektive des nationalistischen Gedankens der Auszug des Propheten aus Mekka und seine Auseinandersetzung mit seinem Vaterland einzuordnen, seine Kritik an den Zuständen in seiner Heimat, letztendlich die Eroberung seiner Heimatstadt mit “fremden” Armeen? Gerade die historische Entwicklung des Islam verweist den Nationalismus auf den Platz einer Ideologie, deren inbrünstige Vertreter bei einer ernsthaften Beschäftigung mit der Prophetengeschichte wohl spätestens mit der Schilderung der Hidschra, dem Auszug des Propheten aus Mekka nach Medina, sich vom Islam abwenden müssten.

Tradition spielt in Religionen eine herausragende Rolle. Ohne die Tradition der islamischen Gelehrsamkeit würde uns vieles fehlen, viele wesentliche Aspekte des Islam könnten wir nicht verstehen und der Weg in extreme Strömungen wie dem Salafismus wäre eröffnet.

Doch auch die Tradition muss sich immer wieder beweisen, sich der Herausforderung der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes stellen. Zumindest liegt die Rechtleitung nicht ohne Zweifel in der Befolgung der Religion der Väter: “Wenn man zu ihnen sagt: “Folgt dem, was Allah herabgesandt hat!” Dann sagen sie: “Nein, wir folgen dem, was wir bei unseren Vätern fanden!” Doch wenn es nun so wäre, dass ihre Väter nichts begriffen und sich nicht rechtleiten ließen?” (2:170)