Das hat nichts mit Afghanistan zu tun!

Das hat nichts mit dem Islam zu tun! Wie oft haben wir diesen Satz bereits gehört? Als erste Reaktion muslimischer Vertreter auf Extremismus und Gewalt im Namen des Islam.

Gleichgültig, wie laut Terroristen sich vor, während und nach ihren Taten auf den Islam berufen – die muslimischen Vertreter waren und sind schnell zur Stelle, um deutlich zu machen: Die Täter sind gar keine richtigen Muslime. All das religiöse Lametta um die Mordtaten herum dient einzig dem Zweck, etwas als islamisch zu behaupten, was in Wirklichkeit nichts mit dem Islam zu tun hat.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung hätte man eigentlich erwarten dürfen, dass in schneller Folge Erklärungen aus den Verbandszentralen der muslimischen Dachverbände zu der Entwicklung in Afghanistan veröffentlicht werden. Niemand wäre überrascht gewesen, hätten die muslimischen Verbandsvertreter sich aufs Schärfste von den Taliban distanziert und sich gleichzeitig darüber beschwert, warum von ihnen immer wieder Distanzierungen erwartet werden. Denn schließlich ist es doch offenkundig, dass Gewalt und Terror keinen Platz im Islam haben.

Nichts davon ist geschehen. Keiner der vielen muslimischen Verbände und Organisationen haben sich öffentlich zu der Situation in Afghanistan geäußert. Während kirchliche Institutionen die Bundesregierung dazu auffordern, unbürokratisch möglichst vielen verfolgten Menschen aus Afghanistan zu helfen und sie in Deutschland aufzunehmen, herrscht bei den muslimischen Dachverbänden breites Schweigen.

Fällt es den muslimischen Verbänden schwer, Hilfe für Muslime zu fordern, die vor Muslimen und dem, was diese eine fromme islamische Herrschaft nennen, verzweifelt fliehen? Ist es Scham, Betroffenheit, Entsetzen, Enttäuschung oder einfach nur Ratlosigkeit? Ist es der Schock, der sich einstellt, wenn man sich eingestehen muss, dass das, was in Afghanistan geschieht und das, was die Taliban einfordern, alles doch etwas mit dem Islam zu tun hat?

Es ist zu befürchten, dass dem Schweigen etwas anderes zu Grunde liegt. Nämlich eine hohe Bereitschaft zur Solidarisierung mit den Taliban und zur Idealisierung ihrer vermeintlich religiösen Motive. Die Taliban haben das umgesetzt, was vielen Muslimen, darunter nicht wenigen Verbandsvertretern, als Ideal einer gesellschaftlichen Entwicklung gilt. Nämlich die uneingeschränkte Durchsetzung des eigenen, konkurrenzlosen politischen Machtanspruchs. Die Taliban haben zunächst die gottlosen Sowjets aus dem Land gejagt und nun gelingt es ihnen auch mit den imperialistischen Amerikanern und allen sonstigen Mächten des säkularen Westens. Sie haben nun endlich die Gelegenheit, ein ganzes Land ungestört nach ihren Vorstellungen eines islamkonformen Lebens zu formen. So denken viele Muslime.

Vor diesem Hintergrund haben die Verbandsvertreter entweder keinen inneren Impuls, der Herrschaft der Taliban und ihren Methoden zu widersprechen, oder sie sehen keine Möglichkeit, dies zu tun, ohne den Aufschrei und Widerstand der eigenen Gemeindebasis zu provozieren.

Gerade im Hinblick auf die großen türkeistämmigen Verbände ist festzustellen: Ihr Islamverständnis folgt der gleichen hanafitisch-maturidischen Tradition und damit genau dem theologischen Gerüst, nach dem die Taliban ihr Religionsverständnis definieren. All die Makel, all die „Schönheitsfehler“, all die Entgleisungen, die jeder religiös definierte Anspruch auf Staatsführung und politische Herrschaft mit sich bringt, werden nicht nur hingenommen, sondern ausdrücklich gebilligt – selbst dann noch, wenn sie das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Entrechtung annehmen. Denn all das dient letztlich ja einem vermeintlich heiligen Zweck.

Und hier liegt auch das Grundproblem eines religiösen Herrschaftsanspruchs: Er führt dazu, dass zum Zweck des Machterhalts nur noch das eigene Religionsverständnis zum Maßstab von Richtig und Falsch wird und nicht mehr das Gewissen und eine für alle geltende nichtreligiöse Rechtsordnung. Es gibt wohl auch deshalb weltweit kein einziges Land, keine Gesellschaft, in der ein religiöser Herrschaftsanspruch Glück, Gerechtigkeit und Segen für die Menschen gebracht hätte.

Dort, wo das Gewissen, das natürliche Gefühl für Gerechtigkeit durch ein willkürliches und selbstsüchtiges Verständnis von Religion überlagert wird, kommt es unweigerlich zu Ausgrenzung und Gewalt gegen jeden und alles, was von den vorgegebenen religiösen Normen abweicht oder sich diesen Normen nicht unterwerfen will.

Auf diesem gedanklichen Boden keimen Frauenverachtung, die Ablehnung säkularer Lebensentwürfe, Homophobie, ein pragmatisches Verhältnis zur Wahrheit, die Sexualisierung von Moral, die Akzeptanz von Korruption und Gier, der Führerkult und der Wunsch, Respekt durch Angst zu erzwingen.

Natürlich hören wir nichts zu diesen Problemen. Denn diese Probleme haben im Grunde nichts mit Afghanistan zu tun. Sie beschreiben nicht ausschließlich Kabuler Zustände. Das kollektive Schweigen zeigt deutlich: Es sind auch die Probleme von muslimischen Organisationen, die den Anspruch erheben, deutsche Religionsgemeinschaften zu sein. Das ist unser Problem hier in Deutschland.