Wieder wurde innerhalb einer Familie beschlossen, dass eine Tochter, eine Schwester, eine Frau sterben muss.
Wieder wird diskutiert, wie man so eine Mordtat nennen soll.
Wieder äußern sich muslimische Verbände und ihre Vertreter, fast alles Männer, gar nicht oder nur einsilbig zu dieser Tat.
Wieder hat die Tat nichts mit dem Glauben und der Kultur zu tun, von denen Opfer und Täter geprägt sind. Wieder wird die Tat als völlig überraschender und willkürlicher, fremder und anmaßender Einbruch in die Sphäre des Glaubens und der Kultur behandelt.
Wieder fühlen sich muslimische Verbandsvertreter für alles zuständig, was Muslime betrifft, aber für nichts verantwortlich, was Muslime tun.
Dabei ist es wichtig, genauer hinzusehen und zu begreifen, was sich wiederholt in unserer Gesellschaft ereignet.
Über 90% der Täter sogenannter Ehrenmorde, die zwischen 1996 bis 2005 in Deutschland verübt wurden, waren männlich. Allerdings waren auch knapp über 40% der Opfer dieser Taten männlich. Das wird in unseren öffentlichen Debatten nicht wahrgenommen und wird auch durch den in der Debatte angebotenen Begriff des „Femizids“ nicht erfasst.
Die Täter waren zu über 60% in der Türkei geboren. Herkunft, Kultur, religiöses Umfeld können als wichtige Faktoren dieses Problems also nicht ignoriert werden.
Richtig ist, dass nicht die Religion, nicht der Islam an sich als Ursache und Erklärung für diese Morde herangezogen werden kann. Im Islam lässt sich Vieles finden, das diesen Taten und den Tätern entgegengehalten werden kann. Ebenso richtig ist aber auch, dass die Motivation für diese Taten häufig im Zusammenhang mit religiös beeinflussten Vorstellungen von sexueller Keuschheit und Sittlichkeit der Frau steht.
In jedem Fall nimmt das Motiv dieser Taten in einem sozialen Geflecht der Täter und Opfer Gestalt an, in welchem sie sich nicht als eigenständig, sondern stets in Abhängigkeit zu ihrer sozialen Gruppe wahrnehmen. In diesen kollektiven Dimensionen der Tatmotive spielt der Begriff des „Namus“ eine wichtige Rolle. Vordergründig bezeichnet dieser Begriff die Keuschheit, die sexuelle Reinheit und Unberührtheit vornehmlich der Frauen.
Die sprachgeschichtliche Nähe zum antiken griechischen Begriff des „Nomos“ ist nicht zufällig. „Nomos“ bezeichnet dort im weitesten Sinne das Recht, das Gesetz, die durch angewandtes Recht gesicherte Ordnung.
In patriarchalischen Familienverbänden üben die Männer nicht nur die Kontrolle über die weiblichen Familienmitglieder aus, sondern tragen auch die Verantwortung dafür, dass die durch soziale Regeln und Bräuche gefestigten Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens nicht zum Nachteil der Frauen oder durch Frauen gebrochen werden.
Ein Übergriff von außen auf die sexuelle Integrität der Frauen oder ein Ausbruch der Frauen aus den Zwängen dieser männlich kontrollierten Regeln, führt in der Wahrnehmung des sozialen Umfelds zu einer Zerrüttung der Ordnung, die durch die Männer hätte gesichert werden müssen. Das Kollektiv bewertet diese Zerrüttung als Schwäche der Männer eines Familienverbandes. Was folgt, ist die Erwartung, ob und wie die Männer auf diese Infragestellung, diese Herausforderung ihrer Macht und Stärke reagieren werden.
Das Ignorieren dieser Erwartung ist dort, wo dem Einfluss des sozialen Umfeldes nicht ausgewichen werden kann, häufig keine Option. Untätigkeit würde als so großer Ansehensverlust empfunden, dass die gesamte Familie ihren gesellschaftlichen Status verliert. Eine derart als „schwach“ wahrgenommene Familie verliert ihre Kreditwürdigkeit, ihre Verlässlichkeit als Geschäftspartner und Kunde. Ihre Mitglieder kommen als zukünftige Ehepartner nicht mehr infrage. Die weiblichen Familienmitglieder könnten weiteren Übergriffen ausgesetzt sein, weil die Männer der Familie als schwach und nicht zum Schutz fähig wahrgenommen werden.
Die kollektiven Dimensionen dieser Taten gehen also weit über die immateriellen Assoziationen hinaus, die üblicherweise in den hiesigen Debatten auf die Verurteilung des Ehrbegriffs beschränkt bleiben.
Aus den geschilderten Gründen handeln die Täter häufig gemeinschaftlich im Familienverband. Auch wenn letztlich nur eine Person die Tötung vollzieht, sind es häufig mehrere Familienmitglieder, die in die Vorbereitung der Tat und in die Ausübung durch einen eigenen Tatbeitrag eingebunden sind.
Über einen Femizid, eine Beziehungstat hinaus sind es diese kollektiven Dimensionen der Motive, der Ausführung und der Wirkung sogenannter Ehrenmorde, die eine besondere Verantwortung für die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen mit sich bringen. Mit der Dämonisierung der Mörder als bestialische Einzeltäter werden letztlich nur die kollektiven Verflechtungen dieser Taten verdrängt.
Das Verständnis von Ansehen, Würde und sozialem Status entsteht aber im sozialen Gefüge. Diese gesellschaftlichen Kräfte werden begleitet von einer pädagogischen Sozialisation, in der die Erziehung zur Individualität, zur Selbstbestimmtheit, zur Kritikfähigkeit und zur Infragestellung kollektiver Normvorgaben nicht erwünscht ist.
Hier stehen die muslimischen Verbände in der Pflicht. Denn niemand wird als „Ehrenmörder“ geboren. Die Vorstellung, mit einem Mord an einem Familienmitglied das Ansehen und den sozialen Geltungsanspruch der eigenen Familie wiederherstellen zu können, ist kein Gedanke, der im Inneren einer Person spontan entsteht.
Dieser Gedanke wird an ihn durch die gemeinschaftlichen Vorstellungen von Achtbarkeit, von sexueller Keuschheit, von männlicher Dominanz und weiblicher Fügsamkeit herangetragen. Er festigt sich, je mehr diese Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit reproduziert und bestätigt werden und je mehr das Recht auf Selbstbestimmung der Frauen in diesen Gemeinschaften als Zumutung und Normverstoß stigmatisiert wird.
Verbände können nicht den Tatentschluss eines Mörders verändern. Sie können aber die Zustände ändern, die Männer einer sozialen Erwartung aussetzen, wenn sich Frauen nicht den geltenden Normen ihrer Gemeinschaft beugen. Verbände können es ändern, dass ein Mord als etwas wahrgenommen wird, das die Macht hat Ansehen wiederherzustellen. Sie können dem Mörder die Ehre nehmen.