Morgen begehen wir Muslime die Nacht der Vergebung. In dieser Nacht beten wir darum, von unseren Sünden befreit zu werden. Wir beten um Läuterung.
Wir vertrauen auf die am häufigsten zitierten Attribute unseres Schöpfers, des Allbarmherzigen, des Allgnädigen.
Wir hoffen darauf, dass er uns selbst ein ganzes Leben voller Sünden vergeben mag, wegen einer guten Tat, die wir verrichten. Wir beten um Läuterung und Vergebung, damit wir trotz eines ganzen Lebens voller Tugenden seine Nähe nicht verspielen, wegen einer Sünde, die wir begangen haben.
Unser Glaube ist jedoch nicht ein Glaube allein der Hoffnung auf und der Zuversicht in Gott. Unser Glaube setzt eine tätige Frömmigkeit voraus. Wir müssen unserer Hoffnung auf Vergebung durch eine eigene Bemühung Ausdruck verleihen. Wir müssen das uns menschlich Mögliche tun, um uns Ihm zu nähern. Diese Annäherung an die Vergebung Gottes ist in unserer Glaubenswelt der Gedanke der Reue.
Was aber, wenn die Möglichkeit der Reue im Angesicht von historischer Schuld mehrere Generationen zurückliegt? Was, wenn es nicht um eine Sünde geht, die wir selbst begangen haben, deren Folgen aber weiter wirken und Schmerzen fortsetzen, die vor vielen Jahren verursacht wurden? Können wir Reue empfinden für Sünden, welche die Generationen vor uns begangen haben?
Können wir nicht wenigstens bereuen, dass jene, denen wir nachfolgen, nicht zur Reue fähig oder willens waren? Um den Schmerz zu lindern, der bis heute existiert. Liegt nicht darin auch eine ganz eigene Tugend?
Auch die Reue ohne persönliche Schuld, eine Reue aus dem Anerkenntnis von Schmerz und Leid, eine Reue aus Verantwortung, eine Reue aus Mitgefühl ist möglich. Auch eine solche Reue kann uns dem Ewigen näher bringen als uns unsere Sünden von ihm entfernen. Allein weil wir den Schmerz anderer teilen und dadurch vielleicht ein wenig lindern.
In knapp vier Wochen, wir werden uns dann Mitten im Fastenmonat Ramadan befinden, jährt sich wieder der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Wird es nicht Zeit, die Illusion einer kollektiven Unfehlbarkeit, einer nationalen Makellosigkeit endlich aufzugeben? Sich einzugestehen, dass ein Schmerz existiert, den wir heute anerkennen und damit seine Existenz bereuen können? Um andere – wenn auch nur um einen Hauch – von ihm zu befreien.
Gewinnt unsere Hoffnung um Vergebung durch den Höchsten dann nicht eine neue, tiefere Glaubwürdigkeit?