Lebbeyk

Was bedeutet es, zu glauben? Welchem Zweck dient unser Glaube? Was ändert sich durch unseren Glauben, durch unseren Zustand, an etwas zu glauben? Warum glauben wir? Worin äußert sich unser Glauben? Welchen Einfluss hat unser innerer Zustand, ein glaubender Mensch zu sein, auf unseren äußeren Zustand?

Das Nachdenken über diese Fragen ist in unseren Gemeinschaften keine regelmäßige Praxis. Viel häufiger denken wir darüber nach, wie wir unseren Glauben praktizieren. Die Fragen nach vermeintlich richtiger oder falscher Glaubensausübung verhindern immer mehr, dass das Nachdenken über die Bedeutung unseres Glaubens zu einer regelmäßigen Übung wird.

Die Suche nach dem inneren Sinn und Zweck unseres Glaubens wird durch den prüfenden Blick auf die vermeintlich korrekte Einhaltung der äußeren Form des religiösen Rituals verdrängt. Rituale sind nicht unwichtig. Sie festigen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft.

Der Gebetsruf, der dem Lauf der Erde um die Sonne und um sich selbst folgt, ist seit seiner ersten Rezitation niemals mehr verklungen. Seit die Stirn des Propheten (s.a.s.) zum ersten Mal in Demut vor seinem Schöpfer die Erde berührte, haben Muslime nicht mehr aufgehört, ihren Glauben durch diese Geste der Ergebenheit auszudrücken.

Der Gedanke, dass es entgegen aller trennenden Umstände diese Rituale gibt, die uns Muslime miteinander verbinden, lässt einen demütig erschaudern.

Während der Pilgerreise sprechen wir Muslime bis zu dem Augenblick, an dem unsere Augen die Kaaba erblicken, viele Male die Talbiya. Wir hören sie, wie sie von anderen Pilgernden wiederholt ausgesprochen wird. Wie ein vielstimmiger Chor erklingt die Talbiya je näher wir der Kaaba kommen, wie Welle um Welle einer sanften Brandung erklingt dieser Ruf in und um uns: „Ich eile, Dir zu dienen! Nichts ist Dir gleich! Dir gilt alle Lobpreisung, Dein ist aller Segen und jeder Besitz! Und nichts ist Dir gleich!“

Viel zu häufig wird diese positive Bedeutung des Rituals in unseren Gemeinschaften durch eine rigide Konzentration auf Äußerlichkeiten überlagert. Die Bedeutung des Rituals tritt damit immer mehr in den Hintergrund. Das Ritual selbst wird in all seiner Äußerlichkeit zum Selbstzweck.

Im Augenblick des Ritualgebets geht es nicht darum, ob wir die Koranverse phonetisch makellos rezitieren. Es geht nicht darum, in welcher konkreten Weise wir unsere Hände verschränken, wie weit unsere Ellenbogen vom Körper abstehen, wieviel Abstand zwischen unseren Füßen ist, wie laut wir „Amin!“ rufen. Selbst diesen ganz intensiven Augenblick der Ergebenheit in Gott haben wir mit derart vielen Regeln und Vorschriften überfrachtet, dass wir verleitet sind, mehr an diese Äußerlichkeiten zu denken als an den Moment unserer Verbeugung vor Gott.

Wir haben die Rituale unseres Glaubens mit einer unübersichtlichen Zahl an Verboten, Regeln, Pflichten und Empfehlungen umschlossen, dass ihre Bedeutung, Gemeinschaft zu stiften, kaum mehr sichtbar ist. Wie oft habe ich es erlebt, dass während des Ritualgebets der Nebenmann angestoßen oder angeraunzt wird, weil er vermeintlich „falsch“ betet.

Wie oft erleben wir es in der Fastenzeit, dass Menschen Missbilligung oder gar Anfeindung erfahren, weil sie nicht fasten. Statt dies zum Anlass zu nehmen, sich nach dem Befinden dieses Menschen zu erkundigen, ihm eine Belastung oder eine Sorge abzunehmen, seine Arbeit zu erleichtern oder ihn während einer Krankheit zu unterstützen, blicken wir mit dem tadelnden Auge auf einen Menschen, dem wir Glaubensschwäche oder Fehlverhalten vorwerfen. Das Ritual des Fastens verliert seine Bedeutung, sich seinen Mitmenschen mitfühlend zuzuwenden. Es wird zu einer nicht eingehaltenen Vorschrift. Das Ritual wird zu einer moralischen Ordnungswidrigkeit, die wir dem Anderen vorwerfen, obwohl wir sie im Moment unseres Vorwurfs selbst begehen.

Unser Glaube ist aber ein Glaube der Erleichterung. Er ist ein Glaube, der im Moment des Zweifelns, ob ein Verhalten religiös erlaubt oder nicht erlaubt ist, der Freiheit des Individuums den Vorrang gewährt. Er ist ein Glaube, der im Moment der Not zu Gunsten des Notleidenden jedes Verbot aufhebt. Er ist ein Glaube, der jedem Menschen nicht mehr aufbürdet als dieser zu tragen imstande ist.

Welche Bedeutung haben religiöse Rituale, wenn sie äußerlich korrekt ausgeführt werden aber uns nicht zum Frieden, zur Vergebung, zur Nachsicht, zur Dankbarkeit, zur Freude, zur Mitmenschlichkeit und zur Gerechtigkeit leiten?

Wir müssen uns von dem Gedanken frei machen, dass unsere religiösen Rituale einen Zwang zur äußerlichen Uniformität vorschreiben. Ihre Einübung, ihre Pflege und Praxis schaffen nur dann das Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit in einer Gemeinschaft, wenn wir sie so mit Leben füllen, dass dabei die Bedürfnisse und Grenzen eines jeden Menschen nicht aus dem Blick geraten. Denn jede Welle bricht anders.