Menschen sehen dich an

Theodor W. Adorno schreibt in seinem Werk „Minima Moralia“ unter der Überschrift „Menschen sehen dich an“ Folgendes:

„Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, »schmutziger«, dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen.

Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – »es ist ja bloß ein Tier« -, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das »Nur ein Tier« immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.

In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der »pathischen Projektion«, daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann.“

Mit den folgenden Ausführungen soll die Shoa in keiner Weise mit anderen Ereignissen verglichen oder gar relativiert werden. Es geht vielmehr darum, zu ergründen, warum der Mensch zu Gewalt gegen seinen Nächsten fähig ist und unter welchen Voraussetzungen dies geschieht.

Jahrhunderte haben wir Menschen dazu gebraucht, die Vorstellung zu überwinden, ein Mensch könne und dürfe einen anderen Menschen als dinglichen Gegenstand besitzen, ihn sein Eigentum nennen, nach Belieben ausbeuten und ihn zur Erreichung seiner eigenen Interessen ermorden.

Und auch wenn wir heute glauben, diese Vorstellung überwunden zu haben, ist es in Wirklichkeit doch so, dass wir Zustände der faktischen Sklaverei in Gestalt der unmittelbaren Ausbeutung von menschlichen Körpern oder mittelbar ihrer Arbeitskraft dulden, ja von ihr profitieren, um unsere Gewohnheiten und Lebensstandards nicht ändern zu müssen.

Solange wir die von uns verursachte Ausbeutung und Gewalt nicht unmittelbar vor Augen haben, sie leugnen und beschönigen können, sind wir in der Lage, sie zu verdrängen und unser Selbstbild einer zivilisierten und fortschrittlichen Kultur aufrechtzuerhalten – selbst auch dann noch, wenn unser Verhalten andere Menschen das Leben kostet.

Wir nennen die von uns ausgeübte Gewalt nicht mehr Ausbeutung oder Plünderung. Wir haben dafür Begriffe wie „globalisierte Wirtschaft“ und „Wertschöpfungskette“ erfunden. Letzterer vermittelt uns sogar das Gefühl, dass wir etwas Erschaffen, dass wir schöpferisch tätig sind. In Wirklichkeit transformieren wir die Ressourcen dieser Welt zu unseren Gunsten und auf Kosten des Lebens und der Würde anderer Menschen – von der Wertkette können wir uns den Wert nur sichern, weil andere in Ketten liegen.

In dem Maße, wie wir die freie Zirkulation von Geld und Wirtschaft zu unserem Vorteil fördern, reglementieren und unterbinden wir die freie Zirkulation von Menschen um den Globus, mit dem Ziel, nicht mit ihrem Elend und den von ihnen erduldeten Folgen der von uns verursachten Gewalt konfrontiert werden zu müssen.

Den zweiten Mechanismus unserer Verdrängung beschreibt Adorno mit seinen oben zitierten Worten. Die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen lässt sich nicht mit unserer Bereitschaft zur Ausbeutung anderer Menschen vereinbaren, ohne kognitive Risse zu verursachen. Diese Dissonanz überwinden wir jedoch nicht, indem wir unser Handeln als falsch und schädlich erkennen und folglich ändern. Viel eher sind wir dazu bereit, nur uns als Abglanz Gottes zu betrachten und allen anderen Menschen – und insbesondere denen, die wir ausbeuten und die für unseren Wohlstand leiden – diese Eigenschaft abzusprechen. Wir sind bereit, in ihnen „nur das Tier“ zu sehen.

Selbst wenn wir die Dimension der „Unmenschlichkeit“ unseres Handelns erkennen, sind wir eher dazu bereit, uns mit dieser „Qualität“ unseres Handelns abzufinden, als dieses Leben und unseren Wohlstand mit anderen Menschen zu teilen. Wir gestehen uns ein, anderen die Menschlichkeit abzusprechen, in ihnen „nur das Tier“ zu erblicken. Unsere einzige Rechtfertigung für dieses Handeln ist die fehlende Bereitschaft, auch nur auf einen Bruchteil unserer Annehmlichkeiten zu verzichten. Selbst die bloße Furcht davor, uns einschränken zu müssen oder Gewohntes verändern zu müssen, motiviert uns dazu, andere fortwährend zu entmenschlichen.

Und sobald wir in unserem Gegenüber „nur noch das Tier“ sehen, sind wir zu jeder Form der Gewalt bereit. Dem Tier fehlt die Ebenbildlichkeit Gottes. Es ist im klassischen europäischen Denken, wie die gesamte Schöpfung, uns Untertan. Untertanen sind jeder Verfügungsgewalt ihrer Herren ausgeliefert. Dort aber, wo die Würde des Mensch sich von der Schöpfung löst und in göttliche Sphären aufsteigt, bleibt der Mensch nicht mehr Teil der Schöpfung. In dem Augenblick, in welchem der Mensch sich als Krone der Schöpfung begreift und sich damit näher an Gott als an dessen Schöpfung positioniert, bleibt kein Raum mehr für Mitleid für die Schöpfung.

Das mag auch der Grund sein, warum wir ohne zu zögern täglich millionenfaches Leid an Tieren verursachen. Unsere einzige Begründung für diese Gewalt ist, dass uns Tiere schmecken. Dass wir daran gewöhnt sind und es uns bequem ist, uns von ihrem Fleisch und dem ihrer Nachkommen zu ernähren.

Zum Erhalt unserer Konsumgewohnheiten verfüttern wir die Hälfte der weltweiten pflanzlichen Nahrungsmittelproduktion an Tiere, die wir essen wollen. Gleichzeitig verhungern weltweit Menschen, weil ihnen eben diese Nahrung fehlt. Wir zögern also nicht, Menschen Brot vorzuenthalten, weil wir lieber Fleisch essen, statt das Brot mit Anderen zu teilen.

Dies mag einer der Gründe sein, warum wir als Muslime gehalten sind, an die radikale Einheit Gottes zu glauben. Der strenge Monotheismus des Islam soll nicht einen eifersüchtigen Gott vor anderen Göttern schützen. Er soll uns Menschen vor Augen führen, dass wir nicht über der Schöpfung stehen, sondern ein Teil dieser Schöpfung sind. Die Schöpfung ist uns nicht Untertan. Vielmehr sind wir eine Gemeinschaft von Mitgeschöpfen.

Wir sind nicht das Ebenbild Gottes, denn dieser ist der Eine, der Unvergleichbare, der in jedem Teil seiner Schöpfung ist, dieser aber nicht ähnelt (s. Sure 112). Wir sind nicht der Abglanz Gottes und nicht die Krone der Schöpfung. Wir sind Gottes Statthalter auf Erden (vgl. Sure 2, Vers 30). Ein Statthalter ist nicht befugt, sich das ihm anvertraute Gut anzueignen und es auszubeuten. Als Statthalter sind wir dazu berufen, die uns anvertraute Schöpfung zu bewahren und zu erhalten, Schaden von ihr abzuwenden und ihren Nutzen für alle Mitgeschöpfe zu mehren – nicht nur für uns.

Solange wir nicht bereit sind, unser Selbstverständnis in diesem Sinne zu hinterfragen, wird uns das Sterben im Mittelmeer und das Leid von Menschen auf griechischen Inseln und nordafrikanischen Lagern nicht berühren. Wir werden nicht erschrecken, selbst wenn wir die ganze Welt zum Schlachthaus machen. Und der Mensch, der sich für das Ebenbild Gottes hält, wandelt stets am Rande der Versuchung, nur sich selbst der Nächste zu sein.