Gott fordert uns im Koran immer wieder auf, gemäß bestimmter moralischer Ideale zu handeln, etwa Wahrhaftigkeit (Sidq), Gerechtigkeit (Adl) und Barmherzigkeit (Marhamah). So etwa in Surah 16, Vers 90:
„Siehe, Gott gebietet Gerechtigkeit (Adl) und dass man Gutes tut und dem Verwandten spendet. Und Er verbietet Laster, Verwerfliches und Freveltat. Er ermahnt euch, auf dass ihr euch besinnt!“
Auf der grundlegenden Ebene sind wir als Muslime schlicht angehalten, den Befehlen Gottes zu folgen, uns Seinem Willen hinzugeben. Zusammengefasst wird diese muslimische Grundtugend im Begriff der Taqwa, der mit „Gottesfurcht“ im Deutschen nur unzureichend wiedergegeben ist. Solange unsere Furcht nämlich auf einer rein gefühlsmäßigen und daher egozentrierten Ebene verbleibt, haben wir die wahre Taqwa noch nicht erreicht. Diese besteht nämlich in einem umfassenden Gottesbewusstsein, einem Bewusstsein dafür, dass Er der Schöpfer ist, und nicht wir, Er der Allmächtige, und nicht wir, Er derjenige, der die Gebote festlegt, und nicht wir. Letztlich ist Er der Wahre, der, vom dem alles Sein ausgeht. Wir sind nur, weil Er ist. Das zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, bedeutet letztlich Taqwa.
Jenseits der konkreten Gebote und Verbote lesen wir im Koran immer wieder die Aufforderung, unseren Intellekt zu gebrauchen. Wir sollen Gott nicht einfach nur widerwillig dienen, weil wir Angst vor Seinen Strafen haben. Vielmehr sollen wir, um es salopp auszudrücken, erkennen, dass Gott nicht umsonst Gott ist, dass er uns das Gute gebietet, weil es das Gute ist, und das Schlechte verbietet, weil es das Schlechte ist. Aus der Entscheidung, uns aus vollem Herzen auf die Seite Gottes zu stellen erwächst dann schließlich der wahre Entschluss zum moralischen Leben. Solange wir noch nach Schlupflöchern zwischen Allahs Geboten suchen, die wir zu unserem eigenen Vorteil auszunutzen und Gott gleichsam „auszutricksen“ versuchen, haben wir diesen Entschluss noch nicht getätigt.
Ein religiös-moralisches Leben als Muslim muss, wenn wir uns zu ihm entschließen, ein ganzheitliches Projekt sein. Der Graubereich zwischen konkreten Geboten und Verboten darf nicht zu einer Zone verkommen, die wir schamlos ausbeuten. Scham gegenüber Gott ist in diesem Zusammenhang eine essentielle moralische Tugend; ethischer Opportunismus ist ihr Gegenteil und Anzeichen einer Krankheit der Seele. Wenn wir dann noch in der Manier moralisierender Selbstgerechtigkeit stets auf Andere zeigen, wenn sie äußere Gebote verletzen, aber bei nächst bester Gelegenheit selbst intrigieren, prahlen und übelnachreden, haben wir noch viel an uns zu arbeiten.
Aus einem ehrlichen, inneren Commitment für die Hingabe an Gott kann jedoch ein moralisches Bewusstsein erwachsen, das lebensleitend ist. Die Gebote werden dann gefüllt mit einer Selbstverpflichtung zum Guten, Wahren und Schönen, einer hingebungsvollen Suche nach Gottes Wohlgefallen in allen Dingen. Unzählige sind in unserer Tradition vor uns diesen Weg gegangen, und alle haben sie sich am Besten aller Vorbilder orientiert, am Propheten Muhammad, Gottes Frieden und Segen möge auf ihm und seiner Familie sein.