Im Quran heißt es: „Trage vor, was dir von dem Buche geoffenbart wird und verrichte das Gebet. Siehe, das Gebet bewahrt vor Schandbarem und Verbotenem. Doch das (ständige) Gedenken an Allah ist fürwahr das Größte. Und Allah weiß, was ihr tut.“ [29:45]
Das rituelle Gebet ist eine der fünf Säulen unserer Religion und viele lernen es bereits im frühen Kindesalter kennen: Wenn etwa die Eltern beten und wir nach Aufmerksamkeit lechzen, schreien, aber keine Reaktion folgt. Das Gebet wird zu einem Teil des Alltags; als Kind versucht man die Bewegungen nachzumachen, ohne zu wissen, was genau es damit auf sich hat. Man wartet gespannt auf das Alter, in dem man selbst bewusst beten kann, zählt – wenn es dann endlich soweit ist – die Stunden, um das nächste Gebet verrichten zu können. Es fühlt sich an, wie ein Schritt zum Erwachsenwerden und erst im Laufe der Pubertät lernt man immer mehr über den Sinn und Zweck dieses Rituals kennen. Die Faszination gegenüber dem Gebet schwindet allerdings oft mit den Jahren und den zunehmenden Verpflichtungen, die mit dem Alter einhergehen. Besonders das Morgengebet wird oft zu einem schwierigen Pflichtprogramm, im Winter womöglich mehr als im Sommer.
Den Satz „Ich muss kurz beten“ hat jede/r von uns sicherlich schon mal geäußert. Wenn man das aus einer areligiösen oder nichtmuslimischen Perspektive betrachtet, muss der Satz wahrscheinlich merkwürdig klingen: Kurz beten?! Was soll das bedeuten? Dabei müssten wir uns auch für eine zehnminütige nun allseits hippe Self-Love-Meditation die nötige Zeit nehmen. Ist das Gebet nicht auch eine Art Meditation?
Wer von uns hat das Gebet nichtmuslimischen Freunden gegenüber nicht schon einmal als Meditation präsentiert, um es (oft unbewusst) zu rechtfertigen? Schließlich werden viele die Frage, weshalb man betet, nicht beantworten mit: Gott hat es uns auferlegt und es ist unsere Pflicht. Selbst meine 67-Jährige Mutter rechtfertigt das Gebet mit dem sportlichen Effekt: „Gott möchte, dass wir uns fünf Mal am Tag bewegen und das ist gut für die Gesundheit.“ Der Hang zur rationalen Erklärung für das Gebet hat sogar konservative, türkische Omis erreicht, die keine/kaum nichtmuslimische Freunde haben. Woher kommt also dieser rationale Rechtfertigungsdruck? Die Antwort „Es ist unsere Pflicht“ ist im säkularen Zeitalter nicht mehr zeitgemäß und womöglich sogar abstoßend. Selbst wir Muslime benötigen manchmal spirituell-funktionale Gründe, um es anzunehmen. Es reicht nicht, zu sagen: Es ist Pflicht. Wir müssen sagen: Es ist Pflicht, weil…
Im vermehrt säkularen Umfeld ist es zudem schwierig, alle fünf Gebete zu verrichten. Dabei soll es keine Rechtfertigung sein, die uns auferlegten Gebete zu verpassen: Wer möchte, kann in den meisten Fällen auch beten. Allerdings sind wir von so vielen Eindrücken und Reizen überwältigt und hetzen von Termin zu Termin, sodass wir manchmal nicht die Geduld haben, alle Gebete auch richtig zu verrichten: Oft sind wir währenddessen schon im nächsten Termin oder haben andere Dinge im Kopf. Es fällt uns im Allgemeinen zusehends schwer, uns zu konzentrieren und zu fokussieren. Wir sind ständig getrieben zwischen den Kalendertagen und den nächsten To-Do’s. Dabei könnte uns das Gebet im Alltag eine Leichtigkeit verschaffen, uns die nötige Einkehr ermöglichen, damit wir Energie tanken. Dabei möchte ich auch auf die immense Bedeutung dieses Rituals hinweisen: In dem Gebet kommunizieren wir mit Gott. Wir teilen ihm uns mit, wir schütten unser Herz aus, wir werden Gott so nahe, dass wir ihn fast spüren könnten, wenn wir uns nur darauf einlassen und jedes Gebet als Möglichkeit zur Kommunikation annehmen würden. Dies vergessen wir leider allzu oft.
Eine weitere Beobachtung, die ich gemacht habe, ist: Viele beten mehr bzw. verrichten die Gebete zur richtigen Zeit, wenn alles in Ordnung ist. Wenn ich Glück verspüre und gerade keine Sorgen habe, nehme ich meine Gebete ernster. Dabei sollten wir Gott auch in schwierigen Situationen anrufen, auch wenn es uns gerade nicht so gut geht. Das Gebet ist kein Hobby und keine Last, die wir in glücklichen Situationen besser ertragen können. Wir sollten uns immer wieder bewusst machen, weshalb wir beten, was genau wir rezitieren, wir sollten das Gefühl haben, dass Gott uns zuschaut und uns antwortet. Und auch wenn wir es oft nicht wahrnehmen, antwortet Er uns immer. Wir müssen uns nur darauf einlassen.