Mono no aware

Sakura heißt die japanische Kirschblüte. Sie blüht in verschiedenen Gegenden Japans zwischen Ende März bis Anfang Mai und läutet mit ihrer Farbenpracht den Frühling ein. Der Kirschbaum trägt keine essbaren Früchte, hat dafür aber viele Blüten. Wenn man so will, erfüllt die japanische Kirsche ihren Lebenszweck nur für die Zeit ihres Erblühens, welches lediglich bis zu 10 Tage im Jahr anhält. In dem Moment, in dem die Blüte ihre prachtvollste Ausprägung erlangt, stirbt sie.

Die Japaner erkennen in diesem Zyklus der Sakura die Endlichkeit ihrer eigenen Existenz. Sie sind voller Trauer über die unabwendbare Vergänglichkeit dieser Schönheit. In den Schmerz und die Ergriffenheit über den Verlust nach so kurzer Freude mischt sich die Erkenntnis der Flüchtigkeit alles Irdischen. Wesentlich für die japanische Kultur ist diese Einsicht der Flüchtigkeit des Lebens und gleichzeitig die Empfindsamkeit, in dieser Flüchtigkeit eine verwundbare, zarte Schönheit zu entdecken.

Die gesamte Schöpfung ist in der stetigen Bewegung zwischen Werden und Vergehen. Gerade die Kenntnis von der Vergänglichkeit und Endlichkeit alles Schönen, soll uns dazu befähigen, nicht den Schmerz des Verlustes als prägendste Emotion zu empfinden, sondern aus diesem Schmerz das Gefühl der Freude und Dankbarkeit zu schöpfen, die Schönheit eines Moments, die Anmut eines Anblicks, den Klang einer Stimme, letztlich die Anwesenheit und Liebe eines Menschen erlebt haben zu dürfen – auch wenn sie nur von viel zu kurzer Dauer gewesen ist.

Diese Gefühl der Melancholie, dass jede Schönheit ganz wesentlich von ihrer Unbeständigkeit abhängt, gerade die Hinnahme des bevorstehenden Verlustes, überwunden von der Wertschätzung des unmittelbar Erlebten beschreiben die Japaner als „mono no aware“.

Es ist ein Gefühl, dem wir Muslime bei jedem unserer Ritualgebete, in jedem Moment unserer Dankbarkeit und Demut im Leben mit einer ganz bestimmten Formulierung Ausdruck verleihen: „Alhamdu lillah“ – Alles Lob gebührt dem Herrn!

Mit diesem Dank an den Herrn der Welten beginnt jedes unserer Gebete. Erfahren wir Momente großen Glücks, geben wir diesem Dank, diesem „Hamd“ einen gesprochenen Ausdruck. In diesen Dank mischt sich die Erkenntnis, dass dieses Glück flüchtig ist. Gerade weil es an uns vorübergehen könnte, gerade weil sich unsere Sorgen auch verschlimmern könnten, weil Gott uns auch härtere Prüfungen auferlegen könnte, danken wir ihm für den Augenblick der Erleichterung und für das, was wir ganz konkret und unmittelbar erleben dürfen oder wovon wir verschont bleiben.

Der Koran ist durchzogen mit vielen Versen, in denen wir dazu ermahnt werden, uns näher anzusehen, was uns umgibt. Die Schöpfung ist eine ganz eigene weitere Form der Offenbarung Gottes. Wir erleben den Wechsel der Jahreszeiten, das sterbende Laub im Herbst und das neue Leben der Knospen im Frühjahr. Wir erleben den täglichen Wechselt zwischen Tag und Nacht, das Wechselspiel von Sonne und Mond, die verschiedenen Zyklen all dessen, was uns umgibt. (vgl. 16, 1 bis 16)

(45, 3 bis 5) „In den Himmeln und auf der Erde sind wahrlich Zeichen für die Gläubigen. Und in eurer Erschaffung und in dem, was Er an Tieren sich ausbreiten lässt, sind Zeichen für Leute, die überzeugt sind. Und auch in dem Unterschied von Nacht und Tag und in dem, was Allah an Versorgung vom Himmel herabkommen lässt und dann damit die Erde nach ihrem Tod wieder lebendig macht, und im Wechsel der Winde sind Zeichen für Leute, die begreifen.“

Wir wohnen in Häusern, in denen zuvor andere wohnten und in denen nach uns wieder andere Menschen wohnen werden, wenn wir längst zu Staub zerfallen sind.

Bei Rumi heißt es: „Wie eine Blume im Frühjahr zu neuem Leben erwacht, kehrt der Mensch durch seine Auferstehung zu seinem Ursprung, zu Gott, zurück“.

So auch im Koran (2, 156): „Wahrlich, von Gott kommen wir, und, wahrlich zu ihm werden wir zurückgebracht“.

Die Offenbarung lehrt uns, dass neben den uns namentlich bekannten Propheten, Gott zu jeder Zeit seine Botschafter zu den Menschen gesandt hat, um zum Guten und Gerechten aufzurufen. (vgl. 16, 43, 44; 16, 63)

Uns muss vor diesem Hintergrund bewusst werden, dass die Botschaft des Islam und die Zeichen, auf welche die Offenbarung uns hinweist, losgelöst sind von bestimmten Sprachen, Kulturen oder Gesellschaften. So wie der Tag und die Nacht uns alle begleiten, richten sich die Botschaften der Offenbarung an alle Menschen. Als Muslime müssen wir uns nicht in einer exklusiven Weise kleiden oder in einer bestimmten Sprache sprechen.

Die Wahrheit unserer Schöpfung verbindet uns mit dem einen Schöpfer. Und die Wahrheit unserer Schöpfung kann die Vielzahl an Ausdrucksformen und Gestalten annehmen, die uns als Individuen ausmachen. Wenn Japaner, gleich welchen Glaubens, beim Anblick der vom Ast zu Boden fallenden Sakura voller Sehnsucht auf das Wunder des nächsten Jahres hoffen und die Trauer über die Vergänglichkeit des Schönen in Dankbarkeit und Demut überwinden, gleicht das dem dankbaren Seufzen von Muslimen, die im Wissen um die Unbeständigkeit jedes glücklichen Moments ihren Schöpfer preisen. So verbindet uns Gott über eine in nur zehn Tagen verblühende Kirschblüte mit Menschen am anderen Ende der Welt: „Al-ḥamdu l-illāhi rabbi lʿālamīn“.