Die Einheit der Muslime

Eine der schönsten Eigenschaften unseres Glaubens ist das Prinzip der Ausgewogenheit zwischen Individualität und Kollektivität unserer Religionspraxis, aber auch unserer Glaubensfundamente. Jeder Aspekt unseres Glaubens, jedes Detail seiner praktischen, gelebten Form aber auch seiner geistigen und seelischen Berührungspunkte weist eine Balance, ein Gleichgewicht zwischen dem einzelnen Gläubigen und seiner Gemeinschaft auf.

Dieses Gleichgewicht zwischen Individuum und Allgemeinheit beginnt bereits bei unserem Glaubensbekenntnis – wir bekunden, dass es keinen Gott gibt, außer dem Einen, dem wir uns ganz persönlich zuwenden. Und gleichzeitig bekunden wir, dass Mohammed (s.a.s.) sein Gesandter ist. Einer, der nicht nur dem Einzelnen, sondern einer ganzen Gemeinschaft gesandt wurde.

Wenn wir dabei berücksichtigen, dass unserer Glaubensüberzeugung nach er der letzte Prophet, der letzte Gesandte ist und mit ihm die Zeitalter der Offenbarung ihr Ende finden, können wir erkennen, dass seine Botschaft, als Siegel der Propheten, an keine nach bestimmten Kriterien eingegrenzte Gemeinschaft gesandt wurde, sondern an die gesamte Menschheit. Die Adressaten der koranischen Offenbarung mittels Mohammed (s.a.s.) sind alle Menschen, unabhängig davon, ob sie alle diese Botschaft auch zu empfangen bereit sind oder sich entscheiden, danach zu leben.

Es geht in unserer Glaubensüberzeugung also nicht darum, dass alle Menschen zu Muslimen im konfessionellen Sinne werden – dies ist allein dem Ratschluss des Allmächtigen überlassen. Wer sein Angesicht Gott zuwendet, also muslimun wird, darüber haben wir nicht zu befinden. Das ist die individuelle Glaubensüberzeugung eines jeden Menschen. Aber gewiss können wir Zuversicht und Verantwortung bei dem Gedanken empfinden, dass die Botschaft der Offenbarung an alle Menschen gerichtet ist.

Aus diesem Gedanken erwächst ein Verständnis von Gemeinschaft und Einheit, in welchem ein immenses Potential des Friedens und des friedlichen Zusammenlebens ruht. Denn wenn wir davon überzeugt sind, dass die letzte Offenbarung Gottes an alle Menschen gerichtet ist, sie alle in ihrer Eigenschaft als Angesprochene betrachtet, schulden wir dieser Intention der Offenbarung ebenfalls die Achtung mit all unseren Herzen und all unseren Möglichkeiten – dann trägt jeder Mensch nämlich das Potential in sich, Empfänger dieser letzten Offenbarung Gottes zu sein oder zu werden. Dann bilden wir mit all diesen Menschen eine Einheit.

Die Eigenschaft, sich zu dieser Offenbarung zu bekennen, überhöht uns Muslime nicht über andere Menschen. Sie überantwortet uns vielmehr eine Verantwortung, jeden Menschen nicht bloß nach seinem aktuellen Zustand zu behandeln, sondern nach den Möglichkeiten, die ihm unser aller Schöpfer verliehen hat – unabhängig davon ob sie diese Möglichkeiten erkannt oder ausgeschöpft haben.

In diesem Sinne sind wir alle die Gemeinschaft Gottes und bilden eine Einheit in unserer Eigenschaft, seine Offenbarung empfangen zu können.

In diesen Begriffen von Einheit und Gemeinschaft liegt aber zugleich eine der größten Tragödien unserer Glaubensgemeinschaft. Wir sind eine Gemeinschaft, der das Ideal der Einheit sehr wichtig ist. Dabei verwechseln wir stets unsere Eigenschaften als Muslime, also unsere Gemeinschaft der sich zur Offenbarung bekennenden und unsere Eigenschaft als Umma, als Gemeinschaft aller von dieser Offenbarung angesprochenen Menschen.

Seit frühen Zeiten der muslimischen Gemeinschaft haben wir den Begriff der Umma als „Einheit der Muslime“ verstanden und damit seine Bedeutung willkürlich eingeschränkt. Wir haben die Sehnsucht nach einer Einheit der Muslime in den sprachlichen Ausdruck der „Umma“ gegossen und darüber verkannt, dass dieses Verständnis von Einheit und Gemeinschaft nicht auf unsere Eigenschaft, Muslime zu sein, beschränkt ist, sondern eine viel universellere Bedeutung in sich trägt.

Unser Streben nach Einheit, nach einer vereinten Gemeinschaft, nach einer Umma, wie wir diese Vorstellung genannt haben, hat uns auf Pfade der Verirrung geführt. Eine der wichtigsten dieser tragischen Verirrungen liegt in dem Verständnis, dass der Irrtum der Gemeinschaft wertvoller und schützenswerter sei, als die Wahrheit des Einzelnen.

Wir sind bis heute davon überzeugt, dass es in Fällen der Meinungsverschiedenheit unter Muslimen besser ist, die Mehrheit in ihrem Irrtum zu unterstützen und damit die vermeintliche Einheit der Gemeinde nicht zu spalten, als der richtigen und zutreffenden Ansicht eines Einzelnen zu folgen und damit den Konsens einer Gemeinschaft zu gefährden oder aufzuheben.

Diese Verirrung hat uns weiter in den nächsten Irrtum geführt – nämlich zu der Überzeugung, dass im Falle der Meinungsverschiedenheit unter Muslimen, die Anführer der Gemeinschaft zu einer Entscheidung befugt sind, die von niemandem mehr angezweifelt werden darf. Die Pflicht des Muslim sei in solchen Fällen, nicht zu opponieren, sondern ergeben zu folgen.

Diese beiden Verirrungen im Streben nach Einheit, haben über Jahrhunderte hinweg viel Leid und Schmerzen über uns Muslime gebracht.

Dabei verkennen wir, dass unser Glaube von uns die Ergebenheit einzig und allein dem Einen gegenüber verlangt: Nur „Dir allein dienen wir“ – so rezitieren wir es wieder und wieder im Gebet, über all die Tage, Wochen, Monate und Jahre seit wir angefangen haben, unser Ritualgebet zu verrichten. Als Muslime schulden wir keiner Einheit und keiner Obrigkeit die Dienerschaft. Wir sind der Wahrheit verpflichtet und nicht dem Irrtum, auch wenn er von Vielen begangen wird.

Bemerkenswert ist die 28. Sure Qasas, in welcher der Lebensweg des Propheten Moses beschrieben wird. Der Koran verwendet im 23. Vers dieser Sure den Begriff der Umma für eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Vieh am Wasser von Midian tränkt. Der Begriff bezeichnet also ursprünglich nicht die „Einheit der Muslime“. Der Koran verwendet ihn im Sinne einer Gemeinschaft von Menschen, die sich zu einem Ziel, einem Zweck, einem gemeinsamen Interesse zusammengeschlossen haben. Dieser Zweck kann die Religion sein, aber auch eben jeder andere, auch weltliche Zweck.

In diesem Sinne kann jede Vereinigung von Menschen als Umma verstanden werden, in welcher man die gemeinsame Anstrengung zur Erreichung des gemeinsamen Zieles schuldet – aber nicht blinden Gehorsam und Treue im Irrtum und in der Verirrung. Vielmehr das aufrichtige Streben danach, was für diese Gemeinschaft das Beste und Richtigste sein kann. Jedes Widerwort, ist in diesem Verständnis keine Spalterei, sondern der Versuch, dem Wahren und Besten einen Schritt näher zu kommen.

Gott bewahre uns vor jenen Menschen, die sich wissend und klaren Blickes dem Irrtum verpflichten, nur weil er von Vielen begangen wird.

Und Gott weiß es am besten.