Eines der zentralen Themen unseres Glaubens ist die Frage nach der Natur, nach der Existenz Gottes. Oftmals wird diese Thematik in die Sphäre des Akademischen, des Theoretischen verschoben. Eine Befassung mit den vielen Ansichten und Meinungen zu dieser Frage findet in der alltäglichen Glaubenspraxis unserer Gemeinden kaum statt. Dort und auch in der höchstpersönlichen Glaubenswirklichkeit unseres Alltages finden wir vielmehr das wieder, was den Raum der ausbleibenden Befassung mit diesem Thema ausfüllt – eine stetig zunehmende Personalisierung und Instrumentalisierung Gottes:
Häufig hören wir in Predigten oder Ansprachen gegenüber der Gemeinde Formulierungen wie: „Das sind nicht meine Worte, das sind die Worte Gottes!“ Oder „Das verlangt Gott von euch!“ Oder „Gott will, dass ihr …“
Ähnlich häufig begegnen uns Predigten oder Ansprachen – insbesondere auch in der Jugendarbeit unserer Gemeinden – in denen eine konkrete Vorstellung von Gott und dem Tag der Rechtfertigung dazu dient, Auffassungen und Vorstellungen des in jenem Augenblick Redenden zu legitimieren. Manch einer verfällt in tiefe Angstpädagogik und zeichnet das Bild eines rächenden Gottes, eines bilanzierenden Gottes, der fast schon wie ein Untergebener seiner selbst nach dem Betrachten von vermeintlichen Sünden- oder Tugendregistern zu einer unumstößlich festgelegten Entscheidung zwischen Himmel oder Hölle gezwungen zu sein scheint.
Andere wiederum meinen, die Flamme eines Feuerzeuges sei eine adäquate Darstellung des Höllenfeuers und der dadurch drohenden Schmerzen, falls die Zuhörenden sich nicht augenblicklich eines tugendhaften Lebenswandels besinnen.
Immer wieder begegnet uns eine Geisteshaltung, die Gott nicht als fundamentalen Bezug unseres Lebens und Glaubens erkennt, sondern als nützlichen Gefolgsmann, als Vorwand unseres Handelns, und als Komplize unserer Fehltritte. Wir haben konkrete Vorstellungen davon, wie Gott unsere Gründe rechtfertigt, unser Handeln begleitet, uns beisteht und unterstützt, wie er mit uns und natürlich gegen unsere Gegner ist, wie er unsere Ziele gutheißt, uns von Fehlern freispricht. Manchmal steht er neben uns, manchmal hinter uns. Manchmal schieben wir ihn auch vor uns. Manchmal berufen wir uns selbst dann noch auf ihn, wenn wir zu den niederträchtigsten Taten fähig sind.
Wir entscheiden darüber, wer – in welcher Weise und an welchem Ort genau – zum Gebet vor ihn treten darf. Wir entscheiden darüber, wer so wichtig ist, dass für ihn in der ersten Gebetsreihe Platz zu schaffen ist. Wir entscheiden darüber, wen er normal und wen er abnormal erschaffen hat, wer das von ihm geschenkte Leben aus welchen Gründen verwirkt hat und wann unsere Vorstellungen von Tradition und Ehre mehr Wert genießen als das von ihm erschaffene Leben.
All das sind Erscheinungsformen unserer Annahme, dass ein Gott nach unseren Vorstellungen existiert und Folge unserer Wünsche und Begierden, wie er zu existieren habe, damit wir unser Sein und Tun nicht hinterfragen müssen.
Dabei fordert uns Gott in dieser Frage bis an die Grenzen unseres Glaubens heraus: Er ist dem Nichts viel näher als dem Etwas, das wir ihm gerne zuschreiben.
Die vielleicht herausforderndste Zusammenfassung dieses Gedankens stammt ausgerechnet aus einer Glaubenswelt, in der Gott wie in kaum einer anderen bis ins Äußerste personalisiert wird: dem Christentum. Dietrich Bonhoeffer formulierte im Alter von 25 Jahren diesen Gedanken: „ ‚Es gibt‘ nur Seiendes, Gegebenes. Es ist ein Widerspruch in sich, jenseits des Seienden ein ‚es gibt‘ auffinden zu wollen … Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“
Gott ist also weder Subjekt, das wir zu uns in Position setzen können, noch Objekt, das wir wissenschaftlich untersuchen können. Gott bleibt für unser Denken und Verstehen stets unbegreiflich, unfassbar, für unsere Begierden unverfügbar.
Später, kurz vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten konkretisierte Bonhoeffer seinen Gedanken von dem Gott, den ‚es nicht gibt’: „Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen.“
Der Gott, den „es nicht gibt“, der sich also bereits in der Formulierung des „Seins“ unserer Vorstellungskraft entzieht, ist der Gott, an den wir als Muslime glauben. Wir bekennen, dass es keinen Gott gibt – außer dem Einen/dem Einigen. In der poetischen Formulierung Friedrich Rückerts offenbart sich dieses Verständnis in der Sure 112: „Sprich: Gott ist Einer, Ein ewig reiner, Hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner, Und nicht ihm gleich ist einer.“
Gott ist unserem Glaubensverständnis nach überall in seiner Schöpfung erkennbar aber zugleich unabhängig von dieser. Gott ist vor der Zeit gewesen und wird nach der Zeit bleiben. Dieses Attribut Gottes können wir in unserer Wirklichkeit des Seins nur erahnen – trotz unserer Gewissheit, zu sein, also der Gewissheit, dass es uns im Hier und Jetzt gibt, ist unsere Existenz doch nicht wirklich gegenwärtig: wir sind in jedem Augenblick unserer Existenz, von der Geburt bis zu unserem Tod, im Werden begriffen und in jeder Sekunde unseres Werdens, vergehen wir.
Die Schwierigkeit, einen Gott zu erfassen, der nicht „ist“, uns aber im Werden und Vergehen begleitet, wird auch in den 99 Namen Gottes deutlich, mit denen seine Eigenschaften dem menschlichen Verstand in Ansätzen zugänglich gemacht werden:
Gott ist „al-Mubdi“, der Beginnende, der Urheber alles aus dem Nichts Geschaffenen.
Gott ist „al-Hayy“, der Lebendige. Gott ist „al-Quayyum“, der allein Stehende, der Ewige.
Gott ist „al-Wahid“, der Eine. Gott ist „al-Ahad“, der Einzige.
Gott ist „as-Samad“, der von allem und jedem Unabhängige.
Gott ist „al-Awwal“, der Erste ohne Beginn. Gott ist „al-Ahir“, der Letzte ohne Ende.
Gott ist „az-Zahir“, der Offenbare, auf den alles Geschaffene klar hinweist. Gott ist „al-Batin“, der Verborgene, den niemand wirklich begreifen kann.
Diese Unvorstellbarkeit und Unfassbarkeit dient nicht dem Schutz Gottes, sondern unserem Schutz. Dem Schutz davor, Gott für unsere Zwecke zu missbrauchen und damit uns selbst und anderen zu schaden. Denn so wie wir Gott nichts beigesellen sollen, so sollen wir Gott auch uns nicht beigesellen und ihn zum Instrument unseres Handelns missbrauchen.
Wie können wir aber einen Gott lieben und uns ihm ergeben, wenn er für uns unvorstellbar bleiben muss, wenn er dem Nichts näher ist, als dem Etwas, das wir uns vorstellen können? Eine mögliche Antwort darauf gibt ein religiöser Gelehrter aus dem 13. Jahrhundert. An dieser Stelle soll offen bleiben, um wen es sich handelt und damit, aus welcher Glaubensvorstellung heraus er seine Gedanken formuliert. So bleiben seine Gedanken als Inspiration für alle, gleich wie und zu welchem Gott wir uns bekennen, und ein gelebtes Beispiel für die im Koran formulierte Herausforderung, voneinander zu lernen, egal woran wir glauben:
„Manche Menschen wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen. Sie wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten es all jene Leute, die Gott um des äußeren Reichtums oder des inneren Trostes willen lieben. Die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ … „Mann soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als mein Eigen und als das, was in einem ist; zudem soll man nicht dienen noch wirken um irgendein Warum, weder um Gott noch um die eigene Ehre noch um irgendetwas, was außerhalb von einem ist, sondern einzig um dessen willen, was das eigene Sein und das eigene Leben in einem ist. Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen, gehe ich in Gott ein.“ … „Du sollst ihn lieben, wie er ist, ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu helfe uns Gott.“ (mk)