Ein weiteres Mal haben wir gestern den Tag der deutschen Einheit gefeiert. Wie bei allen ritualisierten Formen des Gedenkens sollten wir uns auch anlässlich dieses jährlich wiederkehrenden Datums danach befragen, was wir eigentlich feiern.
Die Überwindung der Teilung Deutschlands ist zweifelsohne ein historisches Ereignis. Aber der Tag der deutschen Einheit muss uns für die Zukunft mehr bedeuten, als die völkerrechtliche Wiedervereinigung von Gebietskörperschaften. Denn heute erkennen wir viel deutlicher als noch vor 30 Jahren, dass die Wiedervereinigung der Menschen noch längst nicht erreicht ist. Viel zu sehr dominieren die Vorurteile übereinander in Ost und West, als dass von einer Einheit der Menschen die Rede sein kann.
Und von der Einigkeit der Menschen, als eine Form der unter Achtung des Rechts und der Freiheit jedes Einzelnen gelebten Zusammengehörigkeit, von einer Übereinstimmung in der unnachgiebigen wechselseitigen Achtung des jeweils anderen, sind wir auch noch viel zu weit entfernt.
Wir legen besonderen Wert auf Rituale der Einheit. Wie etwa, dass Spitzensportler die Nationalhymne mitsingen. Aber wir fragen uns viel zu selten, was wir als Gesellschaft denn vorleben, um Einigkeit und Recht und Freiheit unbekümmert besingen zu können.
Ja, wir leben in einer freien Gesellschaft, die mit anderen Ländern und Gesellschaften nicht zu vergleichen ist. Aber wir sind schnell dazu bereit, all jene aufzufordern, dieses Land zu verlassen, die Unrecht und Unfreiheit in unserer Gesellschaft kritisieren. Eine solche Form der Ausgrenzung ist kein Zeichen für die Stabilität einer freien Gesellschaft, sondern ein Zeichen für ihre Anfälligkeit für entmenschlichende Wertaussagen über andere, mit denen ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft eben sehr schnell abgesprochen werden kann.
Wir glauben auch heute noch und in einem erstarkenden Maße, dass staatliche Institutionen einer freien Gesellschaft dann am besten funktionieren, wenn sie nicht die Vielfalt ihrer gesellschaftlichen Realität abbilden. Wir glauben, dass das, was bislang gesellschaftliche Normalität war, zum Maßstab von Neutralität erhoben werden muss und verkennen dabei, dass wir zu Lasten einer neuen gesellschaftlichen Normalität überkommene Vorstellungen davon gesetzlich zu legitimieren versuchen, was unsere Vergangenheit darstellt.
Wir versuchen das vergehende Abbild einer Gesellschaft durch Instrumente des Rechts zu konservieren, statt ihrer vielfältigen neuen Realität und ihrer zukünftigen Normalität die notwendige Freiheit zu verschaffen.
Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht die Einigkeit unserer Gesellschaft feiern. Wir feiern keinen errungenen Zustand der Freiheit. Wir feiern stattdessen ein Versprechen, dass wir uns in unserem Grundgesetz selbst gegeben haben, aber heute stärker denn je damit hadern, dieses Versprechen – von einer durch das gleiche Recht für alle geschützten Freiheit – zur gelebten Wirklichkeit eines jeden Menschen in unserer Gesellschaft werden zu lassen.
Die Angst vor dem Fremden lähmt unsere Sinne für das, was wir uns unter der Last dessen, zu was wir historisch im Stande waren, dereinst versprochen hatten: dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, die nur dann wirklich frei und gerecht sein kann, wenn sie einig ist. Und diese Einigkeit bedeutet eben nicht Uniformität oder Konformität. Einigkeit ist nicht die Übereinstimmung von sich Gleichenden. Einigkeit ist die Zusicherung, sich trotz der Unterschiede und Eigenarten jedes Einzelnen als Gleiche zu achten.
Als religiöse Gemeinschaften ist es unsere Aufgabe, der Macht der Entfremdung zu widerstehen und ihr durch die gelebte religiöse Praxis der Nähe und der Gemeinsamkeit entgegenzutreten, gleich wie unterschiedlich wir einander wahrzunehmen gelernt haben.
Diese Nähe und Gemeinsamkeit können wir im Kleinen der rituellen Praxis, wie auch im Großen unserer religiösen Grundüberzeugungen finden – wir müssen nur bereit sein, sie zu erkennen.
Als Muslime waschen wir uns vor jedem Ritualgebet. Wir reinigen unsere Hände und Füße, wir waschen unser Gesicht und benetzten die Haare. Anschließend treten wir im Gebet unserem Schöpfer entgegen. Erst aufrecht stehend, als die buchstäblich sich ihrer Selbst bewussten Geschöpfe. Danach verbeugen wir uns – und erkennen, dass selbst diese Verbeugung in der Gegenwart Gottes nicht ausreicht.
Sodann werfen wir uns vor ihm nieder, auf die Knie, und berühren mit unserem Gesicht die Erde, die er als Grundlage unserer Existenz, und uns aus ihr, erschaffen hat. Abschließend erheben wir uns wieder und versprechen damit symbolisch, nicht im Augenblick der Niederwerfung zu verweilen, sondern mit dieser Erkenntnis und Demut, als Diener Gottes im Hier und Jetzt füreinander zu wirken. Im Schlussakt unseres Gebetes, kniend, bekräftigen wir dieses Versprechen mit einem Gruß des Friedens und der Barmherzigkeit, nach rechts und links, also zu Jedem und Allem, was uns umgibt.
Auch in diesen Momenten einer scheinbar fremden Art der religiösen Praxis sind wir in Wirklichkeit einander nicht fremd:
„Und Mose, Aaron und dessen Söhne wuschen ihre Hände und Füße darin. Denn sie müssen sich waschen, wenn sie in die Hütte des Stifts gehen oder hinzutreten zum Altar, wie ihm der Herr geboten hatte.“ (2. Mose 40, 31 – 32)
„Und wenn ihr stehet und betet, so vergebet, wo ihr etwas wider jemand habt, auf dass auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Fehler.“ (Markus 11, 25)
„Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.“ (Psalm 95, 6)
„Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ (Matthäus 26, 39)
„Und er riss sich von ihnen einen Steinwurf weit und kniete nieder und betete“ (Lukas 22, 41)
Und im Koran heißt es: „Und haltet alle fest am Seil Gottes und geht nicht auseinander! Und gedenkt Gottes Gunst an euch, als ihr Feinde wart und Er dann eure Herzen zusammenführte, worauf ihr durch Seine Gunst Brüder wurdet. Und als ihr am Rand einer Feuergrube wart und Er euch dann davor errettete. So macht Gott euch Seine Zeichen klar, auf dass ihr rechtgeleitet werden möget! Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das Rechte gebietet und das Verwerfliche verbietet. Jene sind es, denen es wohl ergeht.“ (Sure 3, Verse 103, 104)
Wir Muslime lesen diese Verse stets im Verständnis, dass darin unsere Gemeinschaft der Muslime beschrieben wird. Wenn wir als Muslime den Tag der deutschen Einheit feiern, sollten wir uns aber nunmehr auch fragen, ob in diesen Versen uns nicht ein Aufruf zur Gemeinschaft offenbart wird, in der über Äußerlichkeiten hinausgehend die Einigkeit aller gefordert wird, die sich für das Recht und die Freiheit aller Menschen einsetzen. Wenn dem so ist, dann müssen aber mehr Mauern fallen als nur die eine vor 30 Jahren. (mk)